Vorstellung der Ergebnisse der Studie

»Chancen und Risiken des Internets der Zukunft aus Sicht von Menschen mit Behinderungen«

auf der Aktion Mensch-Fachtagung »Einfach für Alle – Konzepte und Zukunftsbilder für ein Barrierefreies Internet« am 6. Mai 2008 im Wissenschaftspark Gelsenkirchen

Von Iris Cornelssen und Christian Schmitz

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
im Namen der Aktion Mensch begrüßen wir Sie ganz herzlich zur Fachtagung »Einfach für Alle – Konzepte und Zukunftsbilder für ein Barrierefreies Internet«. Wir danken Ihnen, dass Sie heute so zahlreich unserer Einladung in den Wissenschaftspark Gelsenkirchen gefolgt sind und auch wir freuen uns auf einen spannenden, arbeitsreichen Tag.

Zunächst einmal wollen wir uns Ihnen vorstellen.

Wir haben nun die erfreuliche Aufgabe, Ihnen in der kommenden Dreiviertelstunde die Ergebnisse der Aktion Mensch-Studie »Chancen und Risiken des Internets der Zukunft aus Sicht von Menschen mit Behinderungen« vorzustellen.

Keine Sorge: Wir werden nicht der Versuchung erliegen, das komplette Material von mehreren hundert Seiten Auswertungen, Protokollen und Diagrammen in einer Art Diashow an Ihnen vorbeiflimmern zu lassen. Eine Aufbereitung aller Studienergebnisse wird es nach der Tagung im Internet geben. Für heute haben wir die unserer Ansicht nach wichtigsten Ergebnisse für Sie unter vier Punkten aufbereitet – nämlich:

  1. Warum eine Studie?
  2. Aufbau der Studie
  3. Zehn Ergebnisse zur Internetnutzung von Menschen mit Behinderungen
  4. Input der Studie für die BIENE 2008 und die Workshops des heutigen Tages

Warum eine Studie?

Der Begriff Web 2.0 ist zum Synonym für ein »Mitmach-Internet« geworden. Ob Nutzer Fotos oder Videos einstellen, in Foren oder Blogs diskutieren oder ihre Steuererklärung elektronisch abgeben: Das Internet bietet den Menschen immer mehr Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden.

Als Synonym dieser Veränderung hat sich der Begriff Web 2.0 durchgesetzt. Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Zukunftsprojekte kommen heute am Internet nicht mehr vorbei. Doch wie sieht das Internet der Zukunft aus und wie können Menschen mit Behinderung das Web 2.0 nutzen? Antworten auf diese Fragen gibt es bislang im deutschsprachigen Raum nicht viele.

Dabei sind Antworten auf beide Fragen für Menschen mit Behinderungen wichtiger als für andere Bevölkerungsgruppen. Denn die neuen Internet-Techniken eröffnen vor allem Menschen mit Behinderungen vielfältige Chancen zur selbstbestimmten Beteiligung in allen Lebensbereichen – von der politischen Diskussion über Einkäufe und Behördengänge bis hin zu privaten Kontakten und Unterhaltungsangeboten.

Aus diesem Grund hat die Aktion Mensch die erste Grundlagenstudie zur Nutzung des Web 2.0 durch Menschen mit Behinderungen im deutschsprachigen Raum durchgeführt. Wir hoffen, dass diese Ergebnisse weit über diese Tagung hinaus die Diskussion anregen.

In Deutschland leben rund 8 bis 10 Millionen Menschen mit einer oder mehreren Behinderungen. Für uns ist es nicht nur eine Frage der gesetzlichen Verpflichtung, sondern auch der Wirtschaftlichkeit und Kundenorientierung, ein Web-Angebot barrierefrei zu gestalten.

Aufbau der Studie

Die Studie »Menschen mit Behinderungen und Web 2.0« war dreistufig aufgebaut. Sie umfasste:

  1. Expertengespräche,
  2. Gruppeninterviews und
  3. eine Online-Befragung.

In den Expertengesprächen wurden Wissenschaftler und Experten aus der Behindertenhilfe und -selbsthilfe seit Sommer 2007 zum aktuellen Wissensstand zur Internetnutzung durch Menschen mit Behinderung befragt. Anschließend wurden in Gruppeninterviews erfahrene behinderte Nutzerinnen und Nutzer gebeten, Auskunft darüber zu geben, wie sie die neuen Internettechniken nutzen, was sie zukünftig davon erwarten und auf welche Barrieren sie dabei treffen. Diese beiden Teile der Studien wurden von der Stiftung Digitale Chancen in Zusammenarbeit mit dem IFIB durchgeführt.

Auf Grundlage dieser Ergebnisse wurde dann über das Meinungsforschungsinstitut result aus Köln eine Online-Umfrage konzipiert. Dazu wurde erstmals im deutschsprachigen Raum ein Fragebogen im Netz barrierefrei programmiert und optional mit zuschaltbaren Audiofiles und Gebärdensprache-Videos zu Fragen und Antwortoptionen versehen.

Auf verschiedenen Behinderten-Websites wurden die Teilnehmer über Links angesprochen. Die Online-Befragung lief vom 17. Januar 2008 bis 07. Februar 2008. Insgesamt füllten 671 Menschen mit Behinderungen den Fragebogen vollständig aus. Das ist eine Anzahl, die laut Fachleuten präzise Aussagen zulässt.

Behinderungsarten

Die Befragung war für verschiedene Zielgruppen unterteilt, um später für unterschiedliche Behinderungsarten differenzierte Aussagen machen zu können.

An der Umfrage haben sich Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen unterschiedlich stark beteiligt, Mehrfachnennungen der Behinderungsart waren möglich. Um die Ergebnisse richtig zu interpretieren mussten wir diese Gruppen differenziert betrachten. So ist es beispielsweise nicht möglich, Aussagen zu formulieren wie z.B. »Die Behinderten haben folgende Barrieren im Web 2.0«. Sehr gut möglich sind umgekehrt aber Aussagen wie »Gehörlose Menschen stoßen im Netz auf diese oder jene Barrieren«.

Denn Untergruppen ab n = 80 Auskunftspersonen erzeugen in der Regel bereits belastbare Ergebnisse. Das heißt, die Gruppen der Sehbehinderten (133 Befragte), Blinden (124 Befragte), Schwerhörigen (96 Befragte) und Gehörlosen (260 Befragte) können prinzipiell ohne Einschränkungen interpretiert werden. Für motorisch Behinderte (75 Befragte) gilt dies tendenziell ebenfalls.

Anders für die Befragten mit Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS, 41 Befragte) und für die Gruppen Lernbehinderte (LB, 35 Befragte) sowie Geistigbehinderte (GB, 13 Befragte).

Art der BehinderungAnzahl
Sehbehinderte133
Blinde124
Hörgeschädigte96
Gehörlose260
Motorisch Behinderte75
Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS)41
Lernbehinderung (LB)35
Geistige Behinderung (GB)13

Die befragte Zielgruppe eignete sich durch den hohen technischen Standard ihres Internetzugangs und wegen der gleichzeitig hohen Zufriedenheit mit der Leistung des eigenen Rechners sehr gut für eine Befragung zum Thema Barrieren im Internet. Es ist hier nicht zu befürchten, dass identifizierte Barrieren im Internet schlicht durch mangelnde technische Ausstattung verursacht wurden.

Insgesamt handelt es sich ebenso um eine erfahrene Zielgruppe mit höchster Nutzungsfrequenz und überdurchschnittlicher Erfahrung mit Web 2.0-Angeboten. Dies stellt eine ideale Basis dar, um die im weiteren Verlauf der Studie herausgearbeiteten Barrieren von Web 2.0-Anwendungen nicht mit grundsätzlichen Erwägungen, wie z.B. Unerfahrenheit oder geringer Affinität relativieren zu müssen.

Zehn Ergebnisse der Studie

  1. Die befragten Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet und Web 2.0 überdurchschnittlich.
  2. Das Internet hilft, je nach Behinderungsart behinderungsbedingte Nachteile zu kompensieren.
  3. Das Nutzungsverhalten hängt mit der Art der Behinderung zusammen.
  4. Menschen mit Behinderungen empfinden Web 2.0 Angebote als besonders nützlich.
  5. Die meisten befragten Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet – auch mit Hilfe assistiver Techniken – selbstständig.
  6. Menschen mit Behinderungen treffen je nach Behinderungsart auch im Web 2.0 immer wieder auf dieselben Barrieren – z.B. Captchas, Nutzerführung, Sprache, Inkonsistenz.
  7. Sprache im weitesten Sinne ist (nicht nur) für viele Menschen mit Behinderung eine viel höhere Barriere als bisher angenommen.
  8. Menschen mit Behinderung sind bei Interesse an Inhalt und Kontakt sehr kreativ im Umgehen von Barrieren.
  9. Behinderungsspezifische Kommunikationsformen spiegeln sich im Nutzungsverhalten wieder.
  10. Die wirtschaftliche Benachteiligung von Menschen mit Lese/Rechtschreibschwäche, Lernbehinderung und geistiger Behinderung führt auch zu schlechteren Teilhabemöglichkeiten im Internet.

Ergebnis 1:
Die befragten Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet und Web 2.0 überdurchschnittlich.

Der Vergleich mit der ARD/ZDF-Onlinestudie aus 2007 zeigt, dass die hier untersuchte Stichprobe außergewöhnlich internet- und Web-2.0-affin ist:

Typische Merkmalsausprägungen von Onlinern

So nutzt die befragte Zielgruppe das Internet mit hoher Regelmäßigkeit. Während der Durchschnitt der Bundesbürger an 5,1 Tagen die Woche ins Netz geht, tun es die befragten Nutzer mit Behinderungen 6,5 mal die Woche. Für die hier befragten Behinderten ist das Internet folglich ganz überwiegend ein täglicher Begleiter. Finden sich in dieser Zielgruppe Barrieren, so stehen sie also keineswegs im Zusammenhang mit einer nur unterdurchschnittlichen Internetnutzung.

89 Prozent von ihnen verfügen über einen DSL-Anschluss, während es im Bundesdurchschnitt nur 59 Prozent sind. Auch bei der Nutzung verschiedener Web 2.0-Anwendungen liegen die hier befragten Nutzer weit über dem Durchschnitt der Web-Nutzer in Deutschland. 84 Prozent der Befragten nutzen das Internet bereits seit mindestens 4 Jahren. So kann von einer großen Vertrautheit mit dem Medium ausgegangen werden.

Generell fällt zunächst die mit 56 Prozent recht hohe Bekanntheit des Begriffs Web 2.0 in allen befragten Gruppen auf. Bemerkenswert ist ferner, dass 43 Prozent passende Assoziationen zu diesem Begriff nennen.

Dieser Trend setzt sich bei der Frage nach der Nutzung des Web 2.0 fort. 45 Prozent aller Befragten schreiben Kommentare, 40 Prozent lesen Weblogs, knapp 30 Prozent betreiben eigene Websites. Auch hier sind die befragten User hoch involvierte Personen.

Damit wird das Ergebnis der Umfrage »Internet ohne Barrieren« des damaligen Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie aus dem Jahr 2001 bestätigt: Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet offensichtlich überdurchschnittlich.

Ergebnis 2:
Das Internet hilft, je nach Behinderungsart behinderungsbedingte Nachteile zu kompensieren.

Blinde betonen Information, Schwerhörige Kommunikation

Insgesamt ist es weder überraschend noch kann es auf das Vorliegen einer Behinderung zurückgeführt werden, dass der Zugang zu »Informationen« als zentraler Nutzen des Internets gesehen wird. Dies gilt auch gesamtgesellschaftlich.

Gleiches gilt für die Antwort »die Möglichkeiten zur Kommunikation«, welche auf die Frage »Was ist das Beste am Internet?« ebenfalls häufig gegeben wurde.

Jeder zweite motorisch Behinderte schätzt Kommunikation

Speziell für die Befragten dieser Studie bildet die »Kompensation behinderungsbedingter Nachteile« den drittwichtigsten Vorteil des Internets. Unterschiede zeigen sich hier aber zwischen den einzelnen Behindertengruppen. Insbesondere Wahrnehmungs-Behinderte kompensieren Schwierigkeiten im täglichen Leben.

Für Sehbehinderte und Blinde stellt das Internet eine besonders wichtige Informationsquelle dar. Schwerhörige und Gehörlose betonen dagegen die Vorteile des Internets als Kommunikationsmittel im Vergleich zu den anderen Gruppen, ebenso motorisch Behinderte.

Was ist für Sie das Beste am Internet?

Ergebnis 3:
Das Nutzungsverhalten hängt mit der Art der Behinderung zusammen.

Nutzer mit Behinderung sind aktive Web 2.0-Nutzer – das Web 2.0 ist nützlich für Menschen mit Behinderungen. Blinde und Sehbehinderte haben viele Probleme und zugleich die höchsten Nutzungsraten – profitieren sie am meisten von Web 2.0?

Bekanntheitsgrad und Verständnis Web 2.0: Gut 50% kennen es, gut 40% können etws damit verbinden

Bekanntheitsgrad und Verständnis Web 2.0: 40% der Gruppe LB/GB kennt den Begriff: »Web 2.0«

Ein Beispiel ist E-Commerce, der unterschiedlich genutzt und bewertet wird, je nachdem, in welchem Umfang E-Commerce zur Kompensation behinderungsbedingter Nachteile beiträgt.

Bei der Nutzung von E-Commerce-Angeboten zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen hör- und sehbeeinträchtigten Nutzern. 45 % der Schwerhörigen und 53 % der Gehörlosen stimmen der Aussage zu, Webseiten zum Einkaufen zu nutzen, während 70 % der Blinden und 68 % der Sehbehinderten dieser Aussage zustimmen.

Auch die Bewertung von E-Commerce als »das Beste am Internet« fällt durch die hörbeeinträchtigten Nutzern unterdurchschnittlich aus: 8 % Schwerhörige und 6 % Gehörlose stimmen dieser Aussage zu, der Durchschnitt liegt bei 11 % Zustimmung. Die höchste Zustimmung geben Blinde mit 23 %.

Einerseits kann vermutet werden, dass Blinde und Sehbehinderte, aber auch motorisch Beeinträchtigte einen erhöhten Mehrwert in E-Commerce-Angeboten erfahren, da sie dort im Vergleich zum Offline-Einkauf und Handel eher selbstständig auswählen und stöbern können.

Andererseits ist hier auch ein Hinweis aus den Gruppeninterviews Gehörloser von Interesse, der die fehlenden Reklamationswege und Ansprechpartner für Gehörlose und Schwerhörige aufzeigt, da oft nur telefonische Hotlines bei Störungen angeboten werden:

»Probleme beim Einkauf online gibt es erst, wenn etwas nicht klappt und reklamiert werden muss. Oft werden nur Hotlines angeboten und kein Beschwerdemanagement über Mail. Oder die Mails bleiben unbeantwortet.«

»Auch E-Mail ist für Gehörlose beim Beschwerdemanagement nicht ideal, weil nicht klar ist, ob man das Problem richtig formuliert hat und verstanden wird.«

Die Unterschiede in der Bewertung und Nutzung von E-Commerce zwischen seh- und hörbeeinträchtigten Nutzergruppen können also durch zwei Aspekte begründet werden.

  1. Für Blinde, Sehbehinderte, aber auch motorisch Beeinträchtigte bietet E-Commerce in stärkerem Maße eine Kompensation der behinderungsbedingten Einschränkungen in der persönlichen Lebensführung, als dies für hörbeeinträchtigte Nutzerinnen und Nutzer der Fall ist.
  2. Für hörbeeinträchtigte Nutzerinnen und Nutzer stellt das Problem, im Falle von Beschwerden den (einzigen) angebotenen Kanal für Rückmeldungen, das Telefon, nicht nutzen zu können, eine Barriere dar, die zu einer niedrigen Nutzung und weniger hohen Relevanz von E-Commerce-Angeboten führt.

Eine vorurteilsfreie Kommunikation wird nicht als vorrangige Leistung des Internets angesehen. Keine Teilgruppe erreicht hier den Wert von 50 Prozent Zustimmung.

Ergebnis 4:
Menschen mit Behinderungen empfinden Web 2.0 Angebote als besonders nützlich.

Das zeigt sich an den deutlich höheren Nutzungsraten von Web 2.0 Angeboten. Auffällig sind für alle Web 2.0 Anwendungen die Nutzungsraten der Sehbehinderten: Sie liegen mit drei Ausnahmen bei jeder Nutzungsrate auf Platz 1. Das heißt, anteilig nutzen Sehbehinderte im Vergleich mit den anderen Gruppen Web 2.0-Angebote sowohl produktiv als auch rezeptiv in hohem Maße.

Frage: »Haben Sie … schon getan oder versucht zu tun?«
NutzungGesamtSehbehindertBlindSchwerhörigGehörlosMotorisch
Behindert
LRSLB/GB
Wikis lesen72%79%85%68%61%84%59%63%
Als Benutzer registrieren57%75%80%53%36%71%34%41%
Fotos ansehen54%70%8%60%60%65%68%57%
Videos ansehen51%61%32%55%47%57%56%35%
Kommentare schreiben45%59%60%44%28%57%32%37%
Weblogs lesen40%51%41%35%32%47%37%37%
Fotos veröffentlichen38%49%19%45%40%36%29%30%
Nutzerprofil bearbeiten37%56%48%31%23%45%27%28%
Webseiten verlinken35%42%35%34%30%41%29%30%
Eigene Website betreiben29%41%30%28%23%35%24%30%
Podcasts hören26%42%60%18%3%28%20%22%
Freunde in SNS hinzufügen21%29%15%23%17%24%24%20%
Weblogeinträge schreiben18%26%17%25%13%21%20%20%
Wikis schreiben oder kommentieren17%32%17%18%12%21%24%17%
Videos veröffentlichen14%17%2%19%18%9%10%13%
Fotos einbetten11%16%1%11%13%9%10%13%
Videos einbetten11%16%4%16%12%7%10%9%
Social Bookmarking6%12%2%9%5%5%10%7%
Podcasts veröffentlichen4%7%6%5%1%3%2%2%

Die Problemquote bezeichnet das Verhältnis zwischen der Nutzung eines Angebots und der Häufigkeit, mit der Menschen mit Behinderungen dabei auf Barrieren stossen.

  1. Nimmt man an, dass Sehbehinderte im Vergleich mit anderen Gruppen auf wesentlich weniger Barrieren stoßen, müssten die Problemquoten umso geringer ausfallen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Sehbehinderte weisen in keinem von 19 Fällen die niedrigste Problemquote auf.
  2. Eine andere Interpretation dieses Phänomens ist, dass Sehbehinderte mehr von der Nutzung der Web 2.0-Angebote profitieren als andere Gruppen und gleichzeitig bei der Nutzung nicht auf übermäßig hohe Barrieren stoßen oder diese in höherem Maße tolerieren.

In der Tat weist die Gruppe der Sehbehinderten nur in einem Falle die höchste Problemquote auf bei der Tätigkeit »Fotos einbetten« mit 31 %, was von ihnen dennoch überdurchschnittlich genutzt wird mit einer Nutzungsrate von 16 % (Durchschnitt ist 11 %).

Die Sehbehinderten schätzen den Zugang zu Informationen als schnell und umfangreich ein. Der Zugang zu Informationen ist für sie mit Abstand das Wichtigste im Internet, hier belegen sie mit 80 % den ersten Platz.

Eine interessante Aussage findet sich hierzu auch im Expertengespräch mit dem sehbehinderten Experten:

»Mehrwert der Nutzung: Allgemein gibt es einen Zuwachs an Informationsmöglichkeiten, die ohne Assistenz nutzbar sind – wie zum Beispiel die Zeitung zu lesen.«

Eine intensive Nutzung von Web 2.0-Angeboten ist im Falle der Sehbehinderten auf die Motivation der Informationsbeschaffung und -weitergabe zurückzuführen, die online besser und einfacher realisierbar ist als offline. Barrieren sind für Sehbehinderte zwar vorhanden, aber in geringerem Umfang als für andere Gruppen, so dass sie mehr von der schnellen und umfangreichen Informationsbeschaffung profitieren.

Web 2.0-Anwendungen helfen also, behinderungsbedingte Beeinträchtigungen zu kompensieren.

Ergebnis 5:
Die meisten befragten Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet – auch mit Hilfe assistiver Techniken – selbstständig.

Mit Hilfe assistiver Technik können die meisten Menschen mit Behinderungen das Internet selbständig nutzen. Über alle Behinderungsarten hinweg nutzen 73% der Befragten das Internet selbständig, 24 % benötigen ab und zu persönliche Hilfe, 2% der Befragten sind grundsätzlich auf Hilfe angewiesen:

Sehbehindert
(n=133)
Blind
(n=124)
Schwerhörig
(n=96)
Gehörlos
(n=260)
selbstständig79%54%74%78%
ab und zu mit Hilfe21%45%20%18%
grundsätzlich mit Hilfe-1%2%2%
weiß nicht-1%2%2%

Gehörlose nutzen auffällig wenig assistive Technik. Hier dominiert die Abhängigkeit von Gebärdensprache, welche von uns jedoch nicht als klassisch assistive Technologie erfasst wurde.

Auf persönliche Unterstützung ist die Gruppe der Blinden in besonderer Weise wegen mangelnder Barrierefreiheit angewiesen, Menschen mit Lernbehinderung/geistige Behinderung brauchen öfter als der Durchschnitt persönliche Unterstützung.

Ergebnis 6:
Menschen mit Behinderungen treffen je nach Behinderungsart auch im Web 2.0 immer wieder auf dieselben Barrieren – z.B. Captchas, Nutzerführung, Sprache, Inkonsistenz

Bevor wir uns mit den konkret formulierten Barrieren beschäftigen, erscheinen einige Vorüberlegungen sinnvoll:

Die von uns befragten Personen erscheinen hoch kompetent in der Nutzung des Internet. Schon das Aktivitätsniveau der Befragten legt nahe, dass das Niveau der gemessenen Barrieren häufig nicht sehr ausgeprägt sein kann.

Es existieren Barrieren, die hier gewissermaßen unausgesprochen bleiben. Sie bestehen nämlich in ausbleibender Nutzung. Ein Beispiel: 70 Prozent der Sehbehinderten sehen sich Fotos an. Nur 8 Prozent der Blinden tun das. Ausbleibende Nutzung ist in den Fällen bereits als Barriere zu interpretieren, in denen eine Behindertengruppe signifikant seltener Anwendungen des Web 2.0 nutzt als andere Behindertengruppen, ohne das ein grundsätzlich niedrigeres inhaltliches Interesse unterstellt werden kann.

Erwartungsgemäß fallen blinde Nutzer mit geringen Nutzungsanteilen beim Ansehen und Einstellen von Bildern und Videos auf. In der Folge unterbleibt auch die Kommentierung häufig.

Problemquote = Quotient aus Problemen und Nutzung bzw. versuchter Nutzung
ProblemquoteGesamtSehbehindertBlindSchwerhörigGehörlosMotorisch behindertLRSLB/GB
Als Benutzer registrieren
(n=380)
35%41%69%19%14%15%29%22%
Nutzerprofil bearbeiten
(n=247)
27%30%58%6%9%20%7%14%
Videos ansehen
(n=340)
25%28%31%33%23%5%21%26%
Kommentare schreiben
(n=300)
24%25%30%18%21%28%47%24%
Podcasts hören
(n=176)
19%21%17%22%33%11%10%18%
Weblogs lesen
(n=267)
18%25%15%11%16%6%32%19%
Social Bookmarking
(n=40)
17%-50%-40%60%--
Weblogeinträge schreiben
(n=118)
17%12%35%4%15%14%50%-
Fotos ansehen
(n=362)
17%23%63%10%15%11%18%23%
Wikis lesen
(n=486)
17%13%9%13%26%6%34%32%
Insgesamt zeigen sich wie bei der Nutzung behinderungsspezifische Unterschiede im Erleben der Barrieren:
Als Benutzer registrieren:GesamtSehbehindertBlindSchwerhörigGehörlosMotorisch behindertLRSLB/GB
Nutzung:57%75%80%53%36%71%34%41%
Probleme:
(n=380)
35%41%69%19%14%15%29%22%

An der Spitze der Barrieren bei Web 2.0-Anwendungen steht das Registrieren als Benutzer und das Bearbeiten von Nutzerprofilen. Vor allem Blinde erleben diese Tätigkeiten als problematisch: In diesem Zusammenhang häufig verwendete Captchas (also nicht-maschinenlesbare Grafikcodes) sind für Blinde mit Screenreadern nicht wahrnehmbar und folglich nicht bedienbar. In der Konsequenz bedeutet diese absolute Barriere den Ausschluss vieler aktiver Web 2.0-Möglichkeiten für Blinde, es sei denn, sie nutzen das Netz mit einer sehenden Begleitperson.

Hier scheint die Barriere bereits vor der Nutzung oder dem Nutzungsversuch zu liegen: Wer sich an diese Tätigkeiten heranwagt, ist in der Regel auch in der Lage, sie zu bewältigen – oder sie mit fremder Hilfe zu überwinden.

Für Blinde ist die Benutzerregistrierung mit 80 % eine häufig genutzte Anwendung, trotz der mit 69 % sehr hohen Problemrate, die in erster Linie auf Captchas beruht, graphischen Zugangscodes, die ohne fremde Hilfe nicht genutzt werden können.

Im Vergleich mit der Gruppe der Blinden ist die niedrige Nutzerquote der Gehörlosen bei der Benutzerregistrierung (36 %) bei gleichzeitig niedriger Problemquote mit 14 % (niedrigster Wert, Durchschnitt 35 %) auffällig und bedarf der Begründung. Bei einer durchschnittlichen Nutzung der Benutzerregistrierung von 57 % über alle Behindertengruppen liegen die Gehörlosen mit 36 % auf dem zweitletzten Rang.

  1. Wäre die Problemquote, die ja auch eine versuchte Nutzung mit beinhaltet, für die Gehörlosen hoch, könnte man annehmen, dass Barrieren bei der Benutzerregistrierung die Nutzungsintensität verringerten. Dies ist offensichtlich aber nicht der Fall, denn die Problemquote ist – wie gesagt – mit 14 % vergleichsweise niedrig.
  2. Ein geringes Nutzungsinteresse kann ebenfalls nicht die Ursache für die geringe Nutzungsintensität sein, da die Benutzerregistrierung in unterschiedlichen Anwendungstypen – zumindest für eine produktive Beteiligung und vor allem bei Social-Networking-Sites – erforderlich ist, und die Gehörlosen für folgende Anwendungen dieses Typs überdurchschnittliche Werte verzeichnen:
NutzungGesamtGehörlos
Fotos ansehen54%60%
Fotos veröffentlichen38%40%
Videos veröffentlichen38%18%
Fotos einbetten11%13%
Videos einbetten11%12%

Ein Abgleich mit den Gruppeninterviews gibt folgenden Hinweis:

»Profil- und Kontaktplattformen sind allen bekannt, werden aber nicht genutzt. Es bestehen Vorbehalte gegenüber einer Registrierung, außerdem sei es nötig dafür viel Text zu lesen. Grundsätzlich ist aber auch unklar, was das Ziel/ der Mehrwert ist, vor allem, wenn man nicht eingeladen wurde, das heißt, erst mal niemanden kennt …

Wünschenswert wäre eine Demo / Guided Tour, die Sinn, Vorteile und mögliche Einsatzszenarien zeigt. Da die Informationen überwiegend schriftsprachlich sind, erschließt sich die Nutzung nicht von selbst. Learning bei Doing sei zeitaufwendig. Bevorzugt würde eine schnellere, ›knackigere‹ Nutzung.«

Die geringe Nutzung von Benutzerregistrierungsvorgängen seitens der Gehörlosen liegt also nicht an Barrieren innerhalb des Registrierungsvorgangs. Vielmehr sprechen aus Sicht der Gehörlosen umfangreiche Erläuterungstexte und allgemeines Unbehagen bzw. Unverständnis gegenüber Registrierungsvorgängen dagegen.

Ergebnis 7:
Sprache im weitesten Sinne ist (nicht nur) für viele Menschen mit Behinderung eine viel höhere Barriere als bisher angenommen.

Gehörlose haben die drittniedrigste Nutzungsquote bei »Wikis lesen«: Nur 61 % tun dies (im Vergleich: 85 Prozent der Blinden lesen »Wikis«), damit liegen sie unter dem Durchschnitt von 72 Prozent. Die Problemquote ist entsprechend hoch und liegt mit 26 % an dritter Stelle, deutlich über dem Durchschnitt von 17 Prozent.

»Haben Sie … schon getan oder versucht zu tun?«
NutzungGesamtSehbehindertBlindSchwerhörigGehörlosMotorisch BehindertLRSLB/GB
Wikis lesen72%79%85%68%61%84%59%63%
Als Benutzer registrieren57%75%80%53%36%71%34%41%
Fotos ansehen54%70%8%60%60%65%68%57%
Videos ansehen51%61%32%55%47%57%56%35%
Kommentare schreiben45%59%60%44%28%57%32%37%
Weblogs lesen40%51%41%35%32%47%37%37%
Fotos veröffentlichen38%49%19%45%40%36%29%30%
Nutzerprofil bearbeiten37%56%48%31%23%45%27%28%
Webseiten verlinken35%42%35%34%30%41%29%30%
Eigene Website betreiben29%41%30%28%23%35%24%30%

Gehörlose werten und nutzen damit Wikis anteilhaft ähnlich Menschen mit Lernbehinderung/geistiger Behinderung mit 63 % und solchen mit Lese/Rechtschreibschwäche, mit nur 59 %.

Die Problemquoten sind im Vergleich mit den anderen Gruppen am höchsten:

Auf die offene Frage nach den Problemen im Internet liegt die Antwort »Schwierige Sprache« mit 14 Nennungen auf Platz 1, vor den »fehlenden DGS-Videos« mit 8 Nennungen. Auf Platz 3 liegen »Orientierungsschwierigkeiten«.

Aus der Onlinebefragung:

»Einige Texte sind kompliziert und für mich wäre es toll, mit einfachen Sätze oder Gebärdenvideos dazu.«

»Kompliziert.«

»Viele Fremdwörter und Fachbegriffe.«

Die Zahlen aus der Online-Befragung stimmen überein mit der Aussage aus den Gruppeninterviews mit Gehörlosen. Viele Gehörlose bevorzugen aufgrund ihrer geringen Schriftsprachkompetenz Texte in einfacher Sprache – Informationsangebote wie Wikipedia sind textlastig. Einige Inhalte sind sehr gut verständlich, andere sind schwer zu verstehen.

Die produktive Beteiligung beschränkt sich auf berufliche, gemeinsam aufgesetzte Wikis. Allgemein werden Wikis vornehmlich rezeptiv genutzt. Hintergrund ist neben Zeitmangel auch die Angst vor Formulierungsfehlern.

Wikis fehlt es an der Einbindung von DGS-Videos, die eine rezeptive Nutzung verbessern und eine produktive Beteiligung ermöglichen. Das Interesse besteht. Belege aus Gruppeninterviews Gehörlosigkeit:

»Wunsch an Wikipedia: Es sollte die Möglichkeit bestehen, Gebärdensprach-Filme hochladen zu können, dann würden sich Gehörlose auch an der Community beteiligen.«

Auch Nutzer mit Lese/Rechtschreibschwäche und Lernbehinderung/geistiger Behinderung nehmen Wikis als Angebot rezeptiv mit 59 % und 63 % unterdurchschnittlich wahr, genau wie auch Schwerhörige mit 68 %. Der Durchschnittswert liegt bei 72 %.

In der produktiven Nutzung fällt dagegen auf, dass die Gruppe mit Lese/Rechtschreibschwäche mit immerhin 24 % Nutzung deutlich über dem Durchschnitt liegt und die Gruppe Lernbehinderung/geistige Behinderung mit 17 % genau auf dem Durchschnittswert. Die einfachste Erklärung hierfür wäre, dass die Befragten aus diesen Gruppen besonders aktive Nutzer sind.

Ergebnis 8:
Menschen mit Behinderung sind bei Interesse an Inhalt und Kontakt sehr kreativ im Umgehen von Barrieren.

Aufgrund ihrer spezifischen Behinderung haben Blinde und Gehörlose nur geringe Chancen Barrieren zu umgehen. Höhere Toleranz gegenüber selbsterstellten Inhalten ist bei allen Betroffenengruppen erkennbar, hängt aber immer auch von der individuellen Fähigkeit ab, die vorhandenen Barrieren zu überwinden. Eine höhere Toleranz gegenüber selbsterstellten Inhalten ist im Zusammenhang mit Nutzungs- und Problemquoten bei rezeptiver Nutzung von Inhalten zu betrachten. Deshalb haben wir Anwendungen berücksichtigt, bei denen User Generated Content potenziell vorhanden sein kann, zum Beispiel »Videos ansehen« und »Weblogs lesen«.

»Haben Sie … schon getan oder versucht zu tun?«
NutzungGesamtSehbehindertBlindSchwerhörigGehörlosMotorisch BehindertLRSLB/GB
Wikis lesen72%79%85%68%61%84%59%63%
Als Benutzer registrieren57%75%80%53%36%71%34%41%
Fotos ansehen54%70%8%60%60%65%68%57%
Videos ansehen51%61%32%55%47%57%56%35%
Kommentare schreiben45%59%60%44%28%57%32%37%
Weblogs lesen40%51%41%35%32%47%37%37%
Fotos veröffentlichen38%49%19%45%40%36%29%30%
Nutzerprofil bearbeiten37%56%48%31%23%45%27%28%
Webseiten verlinken35%42%35%34%30%41%29%30%
Eigene Website betreiben29%41%30%28%23%35%24%30%

Die Nutzung »Videos ansehen« ist die vierthäufigste Nutzung mit durchschnittlich 51 %. Auch Gruppen, die hier potenziell von Barrieren betroffen sind, wie z.B. Schwerhörige (55 %) und Sehbehinderte (61 %) nutzen diese Anwendung überdurchschnittlich häufig, Gehörlose zu einem Anteil von 47 % leicht unterdurchschnittlich. Blinde liegen aufgrund der offenkundigen Barrieren mit 32 % deutlich unter dem Durchschnitt.

Die Problemquote bei »Videos ansehen« liegt mit 25 % auf dem dritten Platz, das heißt 25 % der Nutzer aller Behinderungsgruppen stoßen auf Schwierigkeiten in der Nutzung bei den Schwerhörigen sind es immerhin 33 % der Befragten:

Eine vergleichbare Aussage lässt sich auch für »Weblogs lesen« treffen. Die Nutzungsquote 40 % belegt Rang 6 der Nutzungen, die Problemquote besagt, dass 18 % der Nutzer auf Schwierigkeiten stoßen. Die Sehbehinderten »lesen Weblogs« am häufigsten mit 51 %, in der Problemquote liegen sie auf Rang 2 mit 25 %.

Quotient aus Problemen und Nutzung / versuchter Nutzung
ProblemquoteGesamtSehbehindertBlindSchwerhörigGehörlosMotorisch behindertLRSLB/GB
Als Benutzer registrieren
(n=380)
35%41%69%19%14%15%29%22%
Nutzerprofil bearbeiten
(n=247)
27%30%58%6%9%20%7%14%
Videos ansehen
(n=340)
25%28%31%33%23%5%21%26%
Kommentare schreiben
(n=300)
24%25%30%18%21%28%47%24%
Podcasts hören
(n=176)
19%21%17%22%33%11%10%18%
Weblogs lesen
(n=267)
18%25%15%11%16%6%32%19%
Social Bookmarking
(n=40)
17%.50%.40%60%..
Weblogeinträge schreiben
(n=118)
17%12%35%4%15%14%50%.
Fotos ansehen
(n=362)
17%23%63%10%15%11%18%23%
Wikis lesen
(n=486)
17%13%9%13%26%6%34%32%

Im Vergleich dazu: Von den motorisch beeinträchtigten Nutzern haben nur 6 % Schwierigkeiten, die Nutzungsrate insgesamt ist dennoch geringfügig niedriger als die der Sehbehinderten: 47 % der motorisch Beeinträchtigten lesen Weblogs.

Eine relativ hohe Problemquote hält also nicht generell von der Nutzung solcher Anwendungen ab, bei denen ein hoher Anteil nutzererstellter Inhalte angenommen werden kann, wie Videos ansehen oder Weblogs lesen. Allerdings werden Anwendungen, die ohne entsprechende Aufbereitung für bestimmte Nutzergruppen prinzipiell unzugänglich sind, wie »Fotos ansehen« und »Podcasts hören« bei den entsprechenden Gruppen wenig genutzt.

Wir vermuten, dass bei Anwendungen mit nutzererstellten Inhalten versucht wird, Barrieren zu überwinden.

Ergebnis 9:
Behinderungsspezifische Kommunikationsformen spiegeln sich im Nutzungsverhalten wider.

Aus der qualitativen Befragung zu Beginn der Studie ging die These hervor, Web 2.0- Anwendungen könnten behinderungsspezifisches Kommunikationsverhalten stärken oder helfen, dieses zu überwinden.

Behinderungsspezifisches Kommunikationsverhalten äußert sich einerseits in der Auswahl bestimmter Kommunikationsmedien und –situationen, so dass in einigen Fällen von einer für die jeweilige Behindertengruppe spezifischen Kommunikationskultur gesprochen werden kann.

Dies wird in unterschiedlichen Nutzergruppen deutlich. So sind Gehörlose einerseits sehr aktiv innerhalb der eigenen Community, aber andererseits vergleichsweise wenig als Benutzer in allgemeinen Communities registriert.

Nutzung
GesamtGehörlos
Weblogs lesen40%32%
Weblogeinträge schreiben18%13%
Problemquote
GesamtGehörlos
Weblogs lesen (n=267)18%16%
Weblogeinträge schreiben17%15%

Gehörlose:

Gehörlose weisen in der Nutzung von Weblogs jeweils die niedrigsten Nutzungsquoten auf, sowohl in der rezeptiven, wie auch in der produktiven Nutzung (32% bei »Weblogs lesen« und 13% bei »Weblogeinträge schreiben«). Die Nutzungsraten sind hier jeweils deutlich unterdurchschnittlich.

Die Problemquoten zeigen aber, dass Gehörlose bei der Nutzung von Weblogs keine besonderen Schwierigkeiten haben. Sie sind sogar unterdurchschnittlich, sowohl in der rezeptiven wie auch produktiven Nutzung: »Weblogs lesen« hat eine durchschnittliche Problemquote von 18%, Gehörlose haben eine Problemquote von 16%. Das Interesse an der Nutzung von Weblogs, läßt sich daraus schließen, ist auf Seiten gehörloser Nutzer tendenziell gering.

Dazu Belege aus Expertenprotokollen:

»In der Gehörlosenkultur ist eine Diskussionskultur, wie sie z.B. über Blogs stattfindet, eher unbekannt. Literarische Veröffentlichungen, Meinungsaustausch und Diskussionen sind nicht Teil einer Gehörlosenkultur. Daher werden diese Formen der Auseinandersetzung tendenziell wenig genutzt. Der Experte sieht die Möglichkeit, dass sich dies mit Ausbreitung von Videoblogs ändert.«

In der quantitativen Befragung zeigt sich weiterhin, dass für Gehörlose die am häufigsten besuchten Webseiten »Behindertenwebseiten« sind, mit einer überdurchschnittlichen Zustimmung von 40 % (Durchschnitt 23 %). Aufgrund der Aussagen in der qualitativen Befragung ist anzunehmen, dass es dabei eher um den Austausch von Informationen innerhalb einer eng vernetzten Community geht, als um rein informative, behinderungsspezifische Interessen. Diese Ergebnisse aus der quantitativen Befragung werden durch Erkenntnisse aus den Expertengesprächen und Gruppeninterviews gehörloser Nutzer insbesondere im Hinblick auf die Communityfokussierung bestätigt.

In der Gruppe der Gehörlosen gibt es also spezifische Kommunikationsformen. Diese führen teilweise dazu, dass bestimmte Web 2.0-Angebote nur in geringem Umfang genutzt werden, obwohl der Nutzung keine anwendungsbedingten Barrieren entgegenstehen.

Andererseits werden bestimmte Anwendungen des Web 2.0, die dem Kommunikationsverhalten in der Community der Gehörlosen entsprechen, bevorzugt genutzt. Für die Gruppe der Gehörlosen kann von einer hohen Online-Vernetzung gesprochen werden, was sich auch in der hohen Zahl der Teilnehmenden an der Onlinebefragung (260 Personen) widerspiegelt.

Blind oder Sehbehindert – ein enormer Unterschied

Schwerhörige:

Auf die Frage, wofür das Internet genutzt wird, wählen Schwerhörige mit 60 % die Antwort, »um mich mit Bekannten auszutauschen« (im Vergleich, Blinde 30 %), neben der Suche nach »Informationen über meine Hobbys« und der Infosuche allgemein (80 %).

Schwerhörige weisen der Kommunikation im Allgemeinen eine vergleichsweise überdurchschnittliche Bedeutung in der Internetnutzung zu, für 47 % ist die Kommunikation »das Beste am Internet« (Durchschnitt: 35 %). Dabei ist speziell der Chat für sie überdurchschnittlich bedeutsam. 21 % wählen ihn als das »Beste am Internet«, die durchschnittliche Bewertung liegt hier bei 8 %.

Schwerhörige nutzen Webseiten im Vergleich stärker als andere Gruppen, um »neue Leute kennenzulernen«, wie 38 % der Befragten angeben (im Vergleich, auf Rang 2 liegen die Sehbehinderten hier mit ca 26 %). Dies könnte auch auf die Schwierigkeiten zurückzuführen sein, die Schwerhörige offline in Gruppensituationen an ›lauten‹ Treffpunkten begegnen.

Belege aus Expertengespräche:

»In Gesprächsgruppen haben Schwerhörige häufig Verständnisschwierigkeiten. Die Situation erfordert von ihnen eine hohe Konzentration. Als Beispiel nennen die Experten, dass bei Treffen in Bars die Hintergrundgeräusche die Aufnahme des Gesagten stören. Schriftliche Kommunikation im Internet dagegen ist problemlos möglich.«

Schwierige Kommunikationssituationen für Schwerhörige können im Internet vor allem über schriftliche Kommunikation (Chat) überwunden werden, deshalb kommt Kommunikation neben der Informationssuche für Schwerhörige eine besondere Bedeutung zu. Techniken, wie das Telefon, die offline nicht ohne weiteres genutzt werden können, können über Anwendungen wie Chat, oder nach der Aussage im Gruppeninterview auch mit z.B. Online-Office-Anwendungen ersetzt werden.

Blinde und Sehbehinderte

Insgesamt liegt das Nutzungsinteresse hauptsächlich in der Recherche und im Vergleich überdurchschnittlich auch im E-Commerce mit 23 % Zustimmung (Durchschnitt 11 %). Sie stimmen der Aussage mit 76 % zu, dass Informationen insgesamt das Beste am Internet sind und besuchen Google am häufigsten, damit erreichen sie einen überdurchschnittlichen Wert von 32 % (Durchschnitt ist 17 %).

Die Daten stimmen mit der qualitativen Einschätzung der Experten überein, dass für Blinde vor allem der Zuwachs an zugänglichen Informationen durch das Internet von besonderer Bedeutung ist. Dies gilt für Blinde und Sehbehinderte gleichermaßen:

Gerade im Vergleich zwischen Blinden und Sehbehinderten stellt sich die Frage, inwieweit sich der Organisationsgrad realer Communities im Internet widerspiegelt?

Ein Beispiel: Bei der Nutzung von Web 2.0-Angeboten weisen Blinde in sieben Fällen die höchste Problemquote auf, da Foto- und Videoanwendungen für sie, wenn eine entsprechende Aufbereitung über Audio- oder Textentsprechungen fehlt, prinzipiell nicht nutzbar sind. Des Weiteren schränken unzugängliche Captchas die Nutzung bestimmter Vorgänge drastisch ein.

Dagegen fanden sich bei Sehbehinderten Hinweise auf eine höhere Toleranz gegenüber Nutzungsbarrieren bereits im Expertengespräch:

»Sehbehinderte sind wenig in Verbänden organisiert. Im Vergleich zu blinden Nutzern gibt es keine Protestkultur im Hinblick auf Barrieren – daher auch weniger Angebote von Verbandsseite.«

Auch die geringe Protestkultur könnte mit dafür ausschlaggebend sein, dass von Sehbehinderten – im Vergleich zu Blinden – Barrieren eher als zur Nutzung zugehörig hingenommen werden.

So nutzen Sehbehinderte im Vergleich zu Blinden Webseiten wesentlich häufiger, um sich mit Bekannten auszutauschen und Texte, Videos und Fotos im Internet zu veröffentlichen

Motorisch Beeinträchtigte:

Auch für motorisch Beeinträchtigte ist die Kommunikation im Internet überdurchschnittlich wichtig, 47 % halten sie für das »Beste am Internet« (Durchschnitt liegt bei 35 %). Sie nutzen es in hohem Maße, um »sich mit Bekannten auszutauschen« (ca 55 %) und »die Meinung mitzuteilen« (zu ca 53 %). Bei der Auswahl, »mit dem Internet kann ich … einfacher mit anderen kommunizieren« haben sie die höchste Zustimmung mit ca. 80 %. Auffällig ist weiterhin ihre Zustimmung »das Beste im Internet ist die schnelle Infosuche« mit 27 %, die über dem Durchschnitt von 24 % Zustimmung liegt:

Ein behinderungsspezifisches Kommunikationsverhalten von motorisch Beeinträchtigten kann nicht festgestellt werden. Online-Kommunikation kann jedoch in gewissem Maße Kommunikationsbarrieren, die in der realen Welt bestehen, überwinden und ist deshalb für die Betroffenen in vergleichsweise überdurchschnittlichem Maße bedeutsam.

Beleg aus Expertengesprächen:

»Allgemein sind Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen in ihrem Kommunikationsverhalten nicht eingeschränkt. Einschränkungen in der Kommunikation können durch Berührungsängste und Befangenheit von Seiten nichtbehinderter Menschen entstehen. Unzugängliche Orte, wie z.B. Kneipen und Cafés können zudem eine Kommunikation behindern.«

Ergebnis 10:
Die wirtschaftliche Benachteiligung von Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche, Lernbehinderung und geistiger Behinderung führt auch zu schlechteren Teilhabemöglichkeiten im Internet.

Die Abfrage der Art des Internetanschlusses und der Zufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit des eigenen Computers bestätigte zudem eine Tatsache auch für das Internet, die in vielen anderen Zusammenhängen bereits hinreichend beschrieben ist. Die wirtschaftliche Benachteiligung von Menschen mit Lese/Rechtschreibschwäche, Lernbehinderung und geistiger Behinderung führt auch zu schlechteren gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten.

Insgesamt herrscht Zufriedenheit mit der Rechnerleistung

Während zum Beispiel 93 Prozent der befragten blinden Nutzer angaben, über einen DSL-Anschluss zu verfügen, waren es bei den Gruppe Lese/Rechtschreibschwäche 73 und Lernbehinderung/geistige Behinderung nur 63 Prozent.

Zwar liegen auch diese Nutzer noch über dem Bundesdurchschnitt von 59 Prozent. Dennoch offenbart sich hier bei gleichzeitigem hohen Interesse eine offensichtliche wirtschaftliche Schwäche der genannten Gruppen. Wer in der Werkstatt 2001 zwischen 100 und 500 € und auf dem Ersten Arbeitsmarkt maximal 750 € verdiente (Hinz und Boban in »Integrative Berufsvorbereitung« 2001; Ohrenkuss 2000), kann sich oftmals eben nur einen modem-basierten Internetzugang leisten.

Mit abnehmender Bandbreite sinkt auch die Zufriedenheit

Dem entspricht die Einschätzung der Leistung des eigenen Rechners. 85 Prozent sind zufrieden mit der Leistungsfähigkeit des Rechners, nur 15 Prozent unzufrieden. Die geringste Unzufriedenheit haben die befragten blinden und gehörlosen Nutzer mit je 12 Prozent. In der Gruppe Lese/Rechschreibschwäche steigt die Unzufriedenheit allerdings auf 22 und bei Lernbehinderung/geistige Behinderung sogar auf 26 Prozent.

Da auch hier davon ausgegangen werden kann, dass die Nutzer ihre Möglichkeiten relativ objektiv einschätzen konnten, ist dieser Anstieg der Unzufriedenheit hinreichend nur durch wirklich schlechtere Hard- und Software zu erklären.

Input aus der Studie in BIENE und Workshops

Die Ergebnisse der Aktion Mensch-Studie »Chancen und Risiken des Internets der Zukunft aus Sicht von Menschen mit Behinderungen« haben sich bereits ausgewirkt. Quasi im laufenden Betrieb wurden die Kriterien der BIENE 2008 durch den Fachlichen Beirat angepasst und erweitert.

Auffallend hierbei, dass die BIENE für die Zukunft des Internet bereits gut gerüstet war. Wirklich neu hinzugekommen oder grundlegend neu gefasst werden mussten nur wenige Kriterien. Aber dazu mehr heute Nachmittag beim offiziellen Startschuss der BIENE 2008.

Bleibt uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, nur noch, Ihnen ein paar Gedanken für die nun folgenden Workshops mit auf den Weg zu geben.

In der Konzeptionsphase dieser Tagung haben wir gelernt, dass sich alle Themen des heutigen Tages in einem mehrdimensionalen Koordinatensystem einordnen lassen: Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Design machen einen Raum auf, der unterschiedliche Blickwinkel auf manchmal dieselben Fragen nicht nur ermöglicht, sondern gerade zu erfordert.

Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben oder die Diskussion in die eine oder andere Richtung lenken zu wollen, hier zu jeder unserer Thesen ein paar Fragen:

  1. Was bedeutet es für Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Design, dass die befragten Menschen mit Behinderungen das Internet überdurchschnittlich nutzen? Sind Menschen mit Behinderung beim Thema Internet wirklich die Vorreiter der Innovation? Wenn ja, warum kümmern sich die Global-Player in Sachen Hard- und Software so wenig um sie? Ist die IT-Branche vielleicht gar nicht so innovationsfreudig, wie sie sich selbst gerne gibt und sieht? Oder sind Menschen mit Behinderung schon heute heimlich die Tester der Standardanwendungen von Morgen?
  2. Kann ein E-Government-, ein E-Commerce-Angebot oder Chat für alle Menschen gleich zugänglich zu sein? Oder heisst ›Einfach für Alle‹ in Zukunft, im Zuge des technischen Fortschritts in einem Angebot integrierte Einzellösungen zu akzeptieren, um je nach Behinderungsart die Kompensation behinderungsbedingter Nachteile möglichst vollkommen zu machen? Wo gibt es, wer wagt und wem gelingt überzeugend der Durchbruch im unauflöslich scheinenden Konflikt zwischen Einzellösungenlösungen und ›Einfach für Alle‹?
  3. Was müssen Internetangebote leisten, um dem unterschiedlichen Nutzungsverhalten von Menschen mit Behinderungen heute und künftig Rechnung zu tragen? Welche Chancen bieten sich hier für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen? Aber auch für alle Nutzer? Können Entwickler, Texter und Designer ein behinderungsübergreifendes Angebot schaffen, dass Modellcharakter für das gesamte Web mit allen Nutzern mit und ohne Behinderung hat?
  4. Wer profitiert am meisten wovon im Web? Sehen Nutzer mit Behinderung eigentlich selbst ihre Stellung als Motor der Innovation? Wenn ja, was machen sie daraus? Und wie sieht das in Zukunft aus?
  5. Welche Möglichkeiten gibt es, den technischen und persönlichen Unterstützungsbedarf für Menschen mit Behinderungen im Netz überflüssig werden zu lassen? Wo macht er eventuell langfristig sogar Sinn? Zum Beispiel, wenn aus assistiven Techniken allgemeingebräuchliche Ein- oder Ausgabegeräte werden? Oder wenn gegenseitige Unterstützung im Internet auch für Menschen ohne Behinderung normal bzw. alltäglich wird?
  6. Wer kippt wann die unnötigen Barrieren, auf die Menschen mit Behinderungen je nach Behinderungsart auch im Web 2.0 immer wieder treffen – z.B. Captchas, Nutzerführung, Sprache, Inkonsistenz? Oder sind diese Barrieren gottgegeben?
  7. Wer nimmt sich des Problems Sprache als erster an? Oder arbeiten eigentlich schon lange viele an diesem Problem und es fehlt an der Vernetzung? Oder schweigen alle, weil es zum Beispiel Entscheidern viel zu banal klingt?
  8. Werden Nutzer mit Behinderungen bald von den Global-Playern in Hard- und Software als Tester angeworben, weil sie so kreativ im Umgehen von Barrieren sind? Und werden dann blinde und gehörlose Nutzer einfach per Definition aus der Internetgemeinde ausgeschlossen, weil sie den Fortschritt hemmen? Und wie können Angebote von Firmen und Behörden so attraktiv werden, dass Nutzer mit Behinderungen auch Restbarrieren wie bei Seiten mit selbsterstellten Inhalten in Kauf nehmen?
  9. Gibt es Potentiale in behinderungsspezifischen Kommunikationsformen in der realen Welt, wie auch im Internet und wo liegen diese? Ist dies eventuell sogar eine Antwort auf die Angst vor der gesellschaftlichen Fragmentierung durch das Internet?
  10. Wer kann wie die wirtschaftliche Benachteiligung von Menschen mit Lese/Rechtschreibschwäche, Lernbehinderung und geistiger Behinderung beenden? Kann diese Tagung, die sich mit der virtuellen Welt befasst, einen solchen Impuls in der realen Welt setzen?