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WCAG-Samurai Errata

Hallo, hier ist wieder der Podcast von ›Einfach für Alle‹, der Aktion Mensch-Initiative für barrierefreies Webdesign. In der letzten Ausgabe hatten wir uns den aktuellen Stand der WCAG 2.0 angesehen, heute schauen wir uns mal nach Alternativen um.

Autor: tc

Die WCAG 1.0 und damit die bundesdeutsche BITV sind bekanntlich etwas in die Jahre gekommen, und die seit langem geplante Nachfolge-Empfehlung des W3C wird wohl auch in diesem Jahr nicht fertig werden. Wobei – die grundlegenden Prinzipien des barrierefreien Webdesigns haben sich nicht geändert. Es geht nach wie vor ausschließlich um den ungehinderten Zugang und die ungehinderte Nutzung von Webinhalten für Menschen mit Behinderungen.

Was sich geändert hat sind die Mittel und Wege, um dies zu erreichen. Problematisch wird dies für Anbieter, die Kraft Gesetzes zur Einhaltung der BITV ohne Wenn und Aber verpflichtet sind. Ähnliches gilt für nicht-staatliche Anbieter, die sich freiwillig oder im Rahmen einer Zielvereinbarung zur Anwendung der BITV verpflichtet fühlen. So findet man in letzter Zeit häufiger Ausschreibungen mit Texten wie »Der Bieter sichert die vollständige Einhaltung der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung zu.« – eigentlich ein schöner Erfolg für eine Bundesverordnung, wenn nicht das ungute Gefühl bliebe, dass dies in der Praxis nicht immer von Erfolg gekrönt sein wird.

Wie wir im Rahmen unserer »BITV Reloaded«-Serie gezeigt haben bestehen die der BITV zu Grunde liegenden Richtlinien zumindest zum Teil aus Punkten, die

  • noch nie wirklich sinnvoll waren,
  • früher sinnvoll waren, aber heute obsolet sind bzw. nicht mehr der gängigen Praxis entsprechen, oder
  • aufgrund der historischen Entwicklung neu interpretiert werden müssen.

Wenn man ein wenig in den Archiven des W3C wühlt findet man Hinweise, dass bereits kurz nach der Veröffentlichung der WCAG 1.0 ein so-genanntes Errata-Dokument erstellt werden sollte, um die gröbsten Schnitzer der Richtlinie zu korrigieren. Einige Anfänge wurden damals schon gemacht, insbesondere im Bereich der allseits beliebten »until user agents…«-Checkpunkte. Allerdings sind diese Errata bis heute nicht fertiggestellt worden, um die Arbeiten an den WCAG 2.0 nicht weiter aufzuhalten. Damals ging man noch davon aus, dass diese zeitnah erscheinen würden – bei dieser frommen Hoffnung blieb es bis heute.

Dabei sind nachträgliche Fehlerkorrekturen an W3C-Empfehlungen durchaus keine Seltenheit: HTML 4.01 und CSS 2.1 korrigieren ebenfalls die jeweiligen .0-Versionen und bringen sie auf eine Linie mit der gängigen Praxis in den Webbrowsern. Dass selbst wissenschaftlich fundierte Theorien und die praktische Umsetzung von einander abweichen ist ebenfalls keine Seltenheit: der Sinn von Theorien ist, dass sie widerlegt werden, um auf dieser Basis bessere Theorien entwickeln zu können.

Spulen wir vor bis ins Jahr 2007: die WCAG 2.0 sind immer noch nicht fertig, und ein offizielles Errata-Dokument, dass die veralteten Aspekte der Version 1.0 korrigiert, gibt es immer noch nicht. Eine Gruppe um den kanadischen Accessibility-Experten Joe Clark hat am 7. Juni den ersten Entwurf eines Errata-Dokumentes für die WCAG 1.0 veröffentlicht. Sie nennen sich die »WCAG Samurai«, was wohl eine Anspielung auf den japanischen Kultfilm »Die Sieben Samurai« des Regisseurs Akira Kurosawa ist; vielleicht nimmt man auch Bezug auf die »CSS Samurai« des Web Standards Project, die mit dem Acid-Test die Epoche der standard-konformen Browser einläuteten. Ob die Samurai ihre Arbeit wie im Film für nur drei Mahlzeiten am Tag verrichten war nicht in Erfahrung zu bringen, und über die Mitglieder der Gruppe schweigt sich die Seite wcagsamurai.org aus. Wobei die Besetzung auch eher was für die Klatschspalten ist, wir interessieren uns hier nur frei nach Altkanzler Kohl für das was hinten rauskommt:

Die WCAG Samurai Errata

Schauen wir uns doch mal an, was die Samurai gemacht haben, oder besser erstmal, was sie nicht gemacht haben:

  • Die Gruppe hat keine Korrekturen am gegenwärtigen Stand der WCAG 2.0 veröffentlicht, es geht alleine um eine Klarstellung und teilweise Fehlerbehebung der Version 1.0.
  • Man übt auch keinerlei Kritik am W3C und seinen Arbeitsgruppen.
  • Die jetzt veröffentlichte Version ist ein erster Entwurf, Kritiken und Verbesserungsvorschläge werden über die auf der Website genannten Kanäle entgegengenommen.

Was man hingegen gemacht hat ist:

  • Mehrdeutige oder schwammige Formulierungen wurden präzisiert. Es gibt kein »until user agents...« mehr, Worte wie »Sie sollten…« oder »vermeiden« gibt es nicht mehr. Eine Richtlinie ist entweder anzuwenden oder nicht, wenn sie nicht anwendbar ist.
  • Wenn eine Website konform zu den Samurai-Errata ist, dann muss sie die Vorgaben der Priorität 1 und 2 erfüllen.
  • Valider Code ist ebenfalls absolutes Muss. Die einzige zulässige Ausnahme ist die Verwendung von EMBED.
  • Sämtliche Richtlinien zu Layout-Tabellen und Frames wurden gestrichen. Gleiches gilt für ASCII-Art - der historisch kuriose Checkpunkt 13.10 wurde ebenfalls gestrichen.
  • NOSCRIPT entfällt. Skripte und alle Arten von Web-basierten Anwendungen müssen direkt zugänglich sein.
  • Viel Wert legen die Samurai auf die Semantik. Webentwickler werden angehalten, alle Inhalte und Funktionen mit dem jeweils passenden HTML-Element auszuzeichnen, auch wenn dies oftmals nur eine ungefähre Annäherung bedeutet – der Umfang von HTML ist bewusst begrenzt und kann nicht alle Eventualitäten präzise definieren.
  • PDF-Dokumente werden klar geregelt: das meiste, was besser in HTML aufgehoben wäre, muss auch HTML sein. Die Errata listen einige zulässige Ausnahmen von dieser Regel, diese PDFs müssen strukturiert, getaggt und damit direkt zugänglich sein.
  • Auch bei multimedialen Inhalten ist man strenger als die WAI: Videos mit Tonspur müssen untertitelt sein, je nach Inhalt müssen Videos Audiodeskriptionen enthalten, Podcasts mit gesprochenem Text (wie dieser hier) müssen auch verschriftet werden, und einfache Text- oder HTML-Dateien sind kein adäquater Ersatz für synchrone Untertitel.
  • Sämtliche Checkpunkte von WCAG-Level 3 und damit der BITV Priorität 2 werden nicht behandelt. Die Begründung der Samurai hierfür ist, dass diese Punkte entweder veraltet sind, keine Barriere darstellen, in Tests nicht verifizierbar sind, oder eigentlich Sache der Browser und Hilfsmittel wären. Die zu vernachlässigende Checkpunkte werden einzeln aufgelistet und in einer Webentwickler-kompatiblen Art und Weise werden die Gründe für den Wegfall dargelegt.

Baustellen

Kognitive Behinderungen: wie die WCAG 1.0 und 2.0 bleibt in den Errata eine große Lücke in diesem Bereich. Wie alle Richtlinien leiden sie an einem Mangel an in der Praxis umsetzbaren Erkenntnissen, wie der Zugang für diese Nutzergruppen barrierefreier gestaltete werden könnte. So wurde die Vorgabe zur einfachen Sprache unangetastet gelassen, es sind aber auch keine neuen Checkpunkte in diesem Bereich hinzu gekommen.

Im Gegensatz zu den WCAG berechtigt die Feststellung der Konformität zu den korrigierten Richtlinien jedoch nicht zu der Behauptung, die Seiten seien damit für alle Menschen mit Behinderung zugänglich.

Konformität

Wie kann man diese Erkenntnisse nun in seine Webangebote einbauen? Nicht ganz einfach: die WCAG Samurai Errata basieren auf den WCAG 1.0; sie ergänzen und korrigieren die Richtlinie und sind somit auch 1:1 auf die BITV anwendbar.

Hier ergibt sich für Anbieter ein Problem: konform zu WCAG Level AA ist man nur, wenn man sämtliche Checkpunkte der Priorität 2 erfüllt. Die Samurai Errata streichen aber eine ganze Reihe von Punkten in allen Prioritäten, sodass man automatisch nicht mehr WCAG-konform ist, sobald man die Samurai Errata anwendet. Für was man sich entscheidet bleibt letztendlich dem Anbieter überlassen, beides zusammen jedoch geht nicht. Mit den Errata hat man jedoch auf jeden Fall die modernere Variante gewählt, die eher der gängigen Praxis und den Erkenntnissen aus den letzten acht Jahren entspricht.

Kritikpunkte

Der Entwurf durchläuft zurzeit so-genannte »Peer Reviews«, in denen weitere Experten den Text gegenlesen und ihre Anmerkungen veröffentlichen. Links zu diesen Reviews wie immer im Anhang der Mitschrift. Auch wenn das ganze bisher hinter verschlossenen Türen entwickelt wurde sollte sich niemand mit Expertise davon abhalten lassen, die Dokumente genau zu lesen und eventuelle Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge zu machen.

Das war die zweiundzwanzigste Ausgabe unseres Podcasts zum Thema barrierefreies Webdesign. Weitere Meldungen zum Thema der heutigen Sendung finden Sie im Weblog von ›Einfach für Alle‹ unter den Tags , und . Bis zum nächsten Mal.