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WCAG 2.0

Hallo und herzlich willkommen beim allerersten Podcast von ›Einfach für Alle‹, der Aktion Mensch-Initiative für barrierefreies Webdesign. Die Idee zu diesem Podcast ist entstanden, weil uns immer wieder Leser darauf angesprochen haben, dass es im AccessBlog bei EfA viel zu viel zu lesen gibt und wir uns doch bitte auf das Wichtigste beschränken sollen.

Autor: tc

Nun wollen wir unseren Lesern aber auch keine Meldungen und Meinungen vorenthalten, zumal das Thema Barrierefreies Webdesign nach einem Zwischentief gerade wieder so richtig an Fahrt gewinnt. Deswegen gibt es ab sofort diesen wöchentlichen Podcast als zusätzliches Format und Ergänzung zum AccessBlog. Mit dem Podcast wollen wir uns auf Dinge beschränken, die in der abgelaufenen Woche wirklich wichtig waren und für langanhaltende Diskussionen gesorgt haben. Falls Ihr Newsreader also gerade überläuft, so sind Sie hier richtig.

Womit wir gleich mittendrin im Thema der Woche wären:

WCAG 2 oder wie Insider sagen Wickäck tuh point oh – der neueste Entwurf der Web Content Accessibility Guidelines des W3C.

Dass der am 27. April als sogenannter »Last Call« vorgestellte Entwurf der WCAG 2.0 für kontroverse Diskussionen in der Szene sorgen würde war eigentlich zu erwarten. Dass die Kontroversen aber so heftig würden, das haben selbst Insider nicht vorhersehen können. Vielleicht war auch einfach nur die Erwartungshaltung zu groß, dass nun nach sechs Jahren Entwicklungszeit endlich eine brauchbare Fassung vorgelegt würde. Eine Richtlinie, die das Thema für die nächsten Jahre wetterfest macht und Webdesignern hilft, moderne Webinhalte zugänglich zu gestalten. So zumindest waren die Hoffnungen.

Nichts von dem scheint der Fall zu sein, wenn man den Äusserungen verschiedener Experten glauben mag, die sich teilweise sehr vehement in ihren Weblogs geäussert haben. Aber schauen wir uns doch erst einmal an, welche Ziele sich die Web Accessibility Initiative des W3C für die Überarbeitung der Richtlinien selbst gesetzt hatte:

  1. Anwendbar über alle Techniken hinweg
  2. Klare Bedingungen zur Konformität
  3. Die Richtlinien sollten einfach zu benutzen sein
  4. Sie sollten für ein breiteres Publikum geschrieben sein
  5. Sie sollten klar herausstellen, wer von zugänglichen Inhalten profitiert
  6. Die überarbeitete Richtlinie sollte auf- und abwärtskompatibel sein

So steht es zumindest auf der Website des W3C in einem Dokument namens »Requirements for WCAG. Wer die Latte so hoch legt, der wird dann auch daran gemessen. Da wundert es nicht, dass in der aktuell laufenden Kommentarphase namens Last Call mit Stand von heute schon über 170 Kommentare eingegangen sind. Und viele Fachleute haben sich über die in ihren Augen viel zu kurze Einspruchsfrist von fünf Wochen geärgert - so viele, dass die Frist nun bis zum 22. Juni verlängert wird.

Die heftigste Kritik hat die WCAG-Arbeitsgruppe aber ausgerechnet von denen geerntet, die zu den wichtigsten Verfechtern der Barrierefreiheit im World Wide Web gehören: so hat der kanadische Accessibility-Berater und Journalist Joe Clark bei A List Apart einen Artikel unter dem Titel »To hell with WCAG« veröffentlicht und gleichzeitig die Bildung der »WCAG Samurai« angekündigt, einer Gruppe die eine verbesserte Version der bestehenden Richtlinien WCAG 1.0 entwickeln wollen.

Und auch die Accessibility Task Force des Web Standards Project arbeitet, so war hinter den Kulissen zu vernehmen, an einer Stellungnahme zum Entwurf.

Fassen wir die wichtigsten Kritikpunkte zusammen:

Testbarkeit

Um die Vorgabe der Testbarkeit aller Kriterien zu erfüllen hat die WCAG-Arbeitsgruppe eine Richtlinie geschaffen, die fast nur noch die technischen Zugangsprobleme berücksichtigt. Punkte zu inhaltlichen Barrieren, wie sie für Menschen mit Lernbehinderungen bestehen, findet man kaum noch im Entwurf. Das geht so weit, dass nun sogar ein Mitglied der Arbeitsgruppe, Lisa Seeman aus Israel, die selbst eine Lese- / Rechtschreibschwäche hat, beantragt hat, Lernbehinderungen aus dem Katalog der Behinderungsformen zu streichen, die von einer verbesserten Richtlinie profitieren würden. Links zu diesem und den andern eingegangenen Kommentaren, und zu einem Artikel von Gez Lemon, der weiter ins Detail geht, gibt's auf unserer Website.

Baselines

Das gesamte Konzept der Baselines, mit denen ein Anbieter einer Website Mindestvoraussetzungen an die technische Ausstattung seiner Nutzer stellen kann, trifft auf weitestgehendes Unverständnis. Die dahinter stehende Idee ist, dass alle Anstrengungen in Richtung barrierefreier Inhalte nichts nützen, wenn die vom Nutzer eingesetzte Software diese nicht unterstützt oder nicht korrekt wiedergibt. Damit Anbieter weiterhin die Barrierefreiheit ihrer Seiten deklarieren können wurden die so genannten »Baseline Assumptions« erdacht, grob übersetzt: »Annahmen von Mindesttechniken«. Darin kann ein Anbieter festlegen, dass die zur Nutzung des Angebots eingesetzte Software zum Beispiel mindestens HTML 4 und CSS 2  verstehen und korrekt umsetzen muss. Es werden auch einige Beispiele gegeben, die keine akzeptablen Baseline Assumptions sind: eindeutig ausgeschlossen sind fehlgeleitete Annahmen wie »diese Seite funktioniert nur im Internet Explorer« oder »für Farbfehlsichtige nicht zugänglich«. Zur Vorbeugung gegen überzogene oder falsche Baselines schreibt die WCAG-Arbeitsgruppe, dass es Aufgabe höherer Instanzen wäre, diese zu verhindern. Nach Ansicht von Experten setzt dies aber funktionierende Anti-Diskriminierungsgesetze voraus, da ansonsten die Handhabe fehle, gegen überzogene Baseline Assumptions privater Anbieter vorzugehen.

Scoping

Ein anderer neu eingeführter Begriff ist der des »Scoping« (englisch für Begrenzung oder Rahmen), der es Anbietern ermöglicht, ganze Bereiche von Websites auszunehmen und trotzdem noch die Barrierefreiheit des Angebots zu deklarieren. Eine ähnliche Konstruktion gab es bereits in der BITV, wo der Gesetzgeber unterschiedliche Fristen und Prioritäten für unterschiedliche Arten von Inhalten gesetzt hat. Beim Scoping hingegen kann ein Anbieter aber nun Teilbereiche eines Angebots von allen Bemühungen ausklammern, auch wenn diese unter Umständen ausgesprochen wichtig für den Nutzer sind.

Konformität

Die der alten AAA (oder Triple-A) entsprechende höchste Konformitätsstufe erreicht man bereits, wenn man nur 50% der Kriterien aus dieser Stufe schafft. Allerdings: man bekommt auch Punkte, wenn die gelisteten Techniken gar nicht auf der Website vorkommen und die Prüfschritte somit nicht anwendbar sind. Kurz gefasst - man kann Triple-A erreichen, ohne überhaupt irgendetwas zu tun.

Dann gibt es noch eine ganze Reihe handwerklicher Fehler, die sich erst offenbaren, wenn man die gesamten Dokumente liest und in Beziehung zu einander setzt. So muss man bei Beachtung der Definitionen des Glossars nun auf einmal seine Podcasts nicht mehr mit Mitschriften hinterlegen. Die Pflicht zur Hinterlegung von Textalternativen z. B. für gehörlose Menschen betrifft nur »synchronisiertes Multimedia« - Podcasts sind aber streng genommen kein Multimedia, sondern lediglich Audio-Dateien.

Umfang

Viele Kritiken richten sich auch gegen den schlichten Umfang der Dokumente - während die WCAG 1 gerade mal 28 Seiten brauchten, um zu beschreiben, wie man Barrieren vermeidet, ist das Regelwerk nun auf über 400 Seiten angewachsen. Fraglich, ob sich daraus noch eine BITV 2.0 ableiten lässt.

Was bleibt zu tun?

Die Formulierung »Last Call« (englisch für Letzte Runde) könnte man so interpretieren, dass dies die letzte Möglichkeit zum Einspruch ist. Das stimmt zum Glück nicht ganz, das Verfahren ist auch weiterhin offen für Kommentare von interessierten Fachleuten, auch in der nächsten Stufe der »Candidate Recommendation«, der nächsten Stufe auf dem Weg zur fertigen Empfehlung. Hinweise, dass da offensichtlich etwas in die falsche Richtung läuft gibt es schon seit Jahren, so hatten wir bei Einfach für Alle vor drei Jahren eine Übersetzung des Artikels »Wie die Barrierefreiheit vor sich selbst gerettet werden kann« von Joe Clark veröffentlicht, in dem er die kritischen Punkte anspricht und externe Fachleute zu intensiverer Beteiligung aufruft. Leider, so muss man sagen ist das gesamte Feedback aus Deutschland eher gering, auch gerade vor dem Hintergrund, dass die WCAG 2.0 die Grundlage für eine überarbeitete BITV bilden könnte. Besonders löblich sind da die Mühen von Martin Stehle, der den Entwurf auf die Bedürfnisse hörbehinderter Menschen hin abgeklopft und eine ganze Reihe Eingaben gemacht hat.

So, das war's auch schon mit unserem ersten wöchentlichen Podcast zum Thema barrierefreies Webdesign. Weitere Meldungen zum Thema der heutigen Ausgabe finden Sie im Weblog von ›Einfach für Alle‹ unter den Tags und .

Wenn es Ihnen gefallen hat hören wir uns nächste Woche wieder.