Standpunkt: Contra Zertifizierung

Offener Brief an das AbI-Projekt

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Autor: ah

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Bühler,
vielen Dank für die Vorab-Zustellung der von Ihnen inzwischen veröffentlichten Pressemitteilung zum Thema »Einheitliche Qualitätskennzeichnung für barrierefreie Internetseiten«. Leider blieb zwischen der Ankündigung der Pressemitteilung vom 31.01.2005 um 16.49 Uhr bis zur Veröffentlichung selbiger Nachricht am 01.02.2005 um 9.45 Uhr keine Zeit, um einen angemessenen Widerspruch zu formulieren.

Als Unterstützer des AbI-Projektes protestieren wir in aller Form gegen die von Ihnen angestrebte Zertifizierung von barrierefreien Internetseiten, wie in der Pressemitteilung angekündigt. Ihr überhastetes Vorgehen, ohne die Möglichkeit, als aktiver Unterstützer die eigene Meinung in dieser Sache zu artikulieren, halten wir für unangemessen und es hinterlässt bei uns einen schalen Beigeschmack.

Sie sprechen davon, Barrierefreiheit im Internet zertifizieren zu wollen. Weder die gegenwärtige Fassung der BITV, noch die WCAG bieten hierfür eine entsprechende objektiv bewertbare Grundlage. Zudem werden nicht alle Behinderungsarten, wie in Ihrer Pressemitteilung irrtümlich verkündet, berücksichtigt. Vielmehr wird auf die Bedürfnisse spezieller Behinderungsarten in besonders hohem Maße Rücksicht genommen, so dass ein derartiges Zertifizierungsverfahren Gefahr läuft, kontraproduktiv zu wirken und fehlende Barrierefreiheit durch einseitige Barrierefreiheit zu ersetzen.

Unserem generellen Unmut über die verschiedenen Testverfahren in Deutschland, sei es nun DIN CERTCO oder BIK, haben wir bereits mehrfach Luft verschafft. Auch innerhalb des AbI-Projektes sind wir vor einigen Monaten dafür eingetreten, mehr Teilhabe innerhalb des Arbeitskreises Testverfahren für alle AbI-Unterstützer zu erzielen. Auch und gerade deshalb, da viele kleinere Agenturen mit großem Praxiswissen als Unterstützer im AbI-Projekt vereint sind, ohne dass deren Fertigkeiten und Kenntnisse sich in den Aktivitäten des AbI-Projektes hinreichend widerspiegeln.

Ein Test nach Maßgabe der DIN CERTCO Kostenstruktur, zumindest nach den uns bekannten Zertifizierungskosten, ist für kleine Agenturen und mittelgroße Auftritte ein absolutes KO-Kriterium. Derartig hohe Kosten können für den Großteil aller in Deutschland verfügbaren Internetauftritte nicht auf den Auftraggeber abgewälzt werden, um ein Zertifikat für Barrierefreiheit zu erhalten. Durch Ihr unbedachtes Vorgehen wird die Forderung nach einem Zertifikat auf Auftraggeberseite jedoch derart beschleunigt, dass ein Zertifizierungs-Zwang entsteht. Folge: Agenturen ohne zertifizierte Kunden verlieren Aufträge.

Wir fordern Sie daher auf, die Pressemitteilung umgehend zurückzuziehen und somit für eine Begrenzung des zu befürchtenden Flurschadens zu sorgen. Barrierefreiheit ist etwas anderes als BITV-Konformität. Zudem bedeutet Zugänglichkeit vor allem Teilhabe. In diesem Sinne wünschen wir uns, dass das AbI-Projekt zukünftig mehr für die Teilhabe aller AbI-Unterstützer unternimmt, um nicht die wirtschaftlichen Interessen Einzelner zu fördern, sondern den Menschen zu helfen, die am meisten auf Barrierefreiheit angewiesen sind.

Sollten unsere Wünsche und Anregungen ungehört bleiben, werden wir unsere AbI-Unterstützung beenden. Wir möchten diesen Schritt nicht als Drohung missverstanden sehen, doch als aktiver Unterstützer müssen wir hinter den Entscheidungen des AbI-Projektes stehen und diese gegenüber Lesern, Kunden und uns selbst verantworten können. Der Dialog mit anderen Agenturen, Experten und nicht zuletzt den Nutzern zeigt, dass ein Zertifikat, gleich welcher Art, derzeit der falsche Weg ist und zu einer trügerischen Sicherheit führt. Barrierefreiheit braucht Aufklärung, keine Augenwischerei. Das war der Grund für unseren Beitritt zum AbI-Projekt und folgerichtig wäre es auch der Austrittsgrund, wenn Ihr Vorhaben umgesetzt wird.

Herzlichst,
Ansgar Hein & Jörg Morsbach