Ein weiter Weg für die Gebärdenschrift

Für Hörende ist es ganz selbstverständlich, über eine Schriftsprache zu verfügen, die ihnen die mühelose Nutzung von Informationen und der Kommunikation im Internet erlaubt. Für Menschen jedoch, die von Geburt an gehörlos oder schon sehr früh ertaubt sind, gestaltet sich diese Nutzung des Internets aufgrund ihrer geringeren Beherrschung der Lautschriftsprache oft schwierig. Könnte die Gebärdenschrift zur Lösung dieses Problems beitragen? Hierüber gehen die Meinungen derzeit auseinander.

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Autorin: Kathrin Brede

Dass Gehörlosen der Zugang zu Webinhalten häufig nur bedingt möglich ist, hat seine Ursache darin, dass ihnen das Erlernen der Lautschriftsprache schwer fällt. Denn für sie ist sie eine Fremdsprache, die sie sich natürlicherweise nicht über das Zuhören aneignen können. Auch funktioniert die Deutsche Gebärdensprache (DGS), mit der sie kommunizieren, grammatikalisch und im Satzbau einfacher. Im Ergebnis haben viele Gehörlose Probleme, komplexe Texte in Lautschrift zu verstehen und zu schreiben.

Um diese Sprachbarrieren zu beheben, begann Stefan Wöhrmann, Lehrer am Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Osnabrück, vor zehn Jahren mit der Entwicklung einer Deutschen Gebärdenschrift. Als Grundlage dafür diente ihm das ›Sutton Signwriting‹, benannt nach der US-Amerikanerin Valerie Sutton, die Mitte der 1970er-Jahre ein Notationssystem erfand, um (auch komplizierte) Bewegungen in Piktogrammen festzuhalten. Wöhrmann erfuhr 1999 von diesem System, erarbeitete eine deutsche Version der Gebärdenschrift, deren Elemente sowohl Gestik, Mimik und Körperhaltung als auch Mundbild berücksichtigt, und setzte sie kurze Zeit später im Unterricht ein.

Seine Erfahrung mit der Schrift, sowohl bei den Erst- bis Neuntklässlern als auch aus seinen Workshops für Erwachsene, bezeichnet er als großen Erfolg. »Die Schrift ist für Gebärdensprachler sehr leicht zu verstehen und zu lernen«, erläutert er. »Und sie hat nur Vorteile. Zum Beispiel hebt Schrift die Flüchtigkeit der Gebärdensprache auf, da man mit ihr ein Dokument erhält. Das Anlegen von Vokabellisten wird möglich. Genauso wie das Nebeneinanderlegen und Vergleichen von Gebärden, wodurch Missverständnisse ausgeräumt werden. Außerdem ist sie wichtig beim Erlernen der Gebärdensprache. Vor allem aber lässt sich mit Hilfe der Schrift die deutsche Lautschriftsprache besser und leichter lernen, weil man die vertraute Gebärdensprache und die korrekte Lösungsübersetzung in der Zielsprache gegenüberstellen und das präzise, gezielt einüben kann.«

Piktogramme bilden Gebärden ab

2005 veröffentlichte der Pionier Stefan Wöhrmann das ›Handbuch zur GebärdenSchrift‹, in dem er die Grundlagen der Schrift vorstellte. Aktuell arbeitet der 55-Jährige nicht nur an einem zweiten Buch, das Menschen befähigen soll, selbst zu schreiben. Er erweitert außerdem mit großem Ehrgeiz kontinuierlich ein digitales Wörterbuch, das momentan knapp 10.700 Einträge umfasst. Dabei handelt es sich übrigens um ein offenes Projekt, an dem sich jeder – am besten nach einer Kontaktaufnahme zu ihm – aktiv beteiligen kann, indem er zum Beispiel neue Gebärden als Video hinterlegt oder im Internet mit dem so genannten Signpuddle abbildet.

Digitales Wörterbuch wächst ständig

»Es gibt keine Gebärde, die man mit diesem System nicht abbilden könnte«, versichert er. »Und je mehr Menschen sich an der ›Fütterung‹ beteiligen, desto besser.« Dabei betont er, dass er nicht entscheidet, wie etwas gebärdet wird, sondern wie es aufgeschrieben wird. Seine Aufgabe sei nicht die Normierung, sondern die Festhaltung – einschließlich der Dialekte. »Denn am Schluss ergibt sich die Normierung dadurch, wie viele eine Gebärde bevorzugen.« Sein Ziel ist, in dieser Datenbank 80.000 bis 100.000 Begriffe zu sammeln. Wöhrmann ist sich sicher, dass man in Zukunft ganz selbstverständlich ein Wörterbuch der Gebärdensprache haben wird, und betont: »Die Schrift ist dennoch bereits durchaus gebrauchsfertig, auch wenn noch nicht alle Gebärden abgebildet sind.«

Noch ist der Bekanntheitsgrad der Wöhrmann'schen Schrift allerdings relativ gering und deshalb heute in Bezug auf das Internet noch kein Thema. Nur ein kleiner Teil der Hörgeschädigten in Deutschland erlernt bzw. beherrscht sie und kann mit ihr arbeiten. Hinzu kommen teilweise Zweifel Betroffener oder Experten, dass die Schrift allgemein Verwendung findet oder grundsätzlich zu leisten vermag, wovon ihr ›Erfinder‹ überzeugt ist.

DGS-Filme sind derzeit der Schlüssel zum Netz

»Die Darstellung von Gebärden kann ich mir in der Zweidimensionalität einer Abbildung nicht vorstellen«, gibt der Internet-Experte beim Deutschen Gehörlosenbund, Kilian Knoerzer, zum Beispiel zu bedenken. »Denn der Ausdruck von Mimik, Gefühl, Bewegung einer einzelnen Gebärde ist bei Schriftsprache nicht vorhanden, alle Feinheiten gehen verloren.« Er ist überzeugt, dass Gebärdensprache immer interaktiv und dreidimensional und somit nur in direkter Kommunikation oder im Internet eben filmisch funktioniert. »Ansonsten gibt es zu viele Interpretationsprobleme«, so Knoerzer. Den Schritt hin zu Animationen in Form von Avataren (virtuelle dreidimensionale Figuren), deren Entwicklung und Einsatz im Bereich Computer-Spiele gute Fortschritte gemacht hätten, hält er hingegen durchaus für möglich. Er wünscht er sich jedoch vor allem, dass möglichst viele Web-Inhalte auch als Gebärdensprach-Video angeboten werden.

Derzeit sind DGS-Filme für die rund 80.000 gehörlosen Menschen in Deutschland tatsächlich der Schlüssel zu einem barrierefrei nutzbaren Netz. Nicht zuletzt aufgrund des personellen, technischen bzw. finanziellen Aufwands stellt deren Einsatz allerdings immer noch eher eine Ausnahme dar.

Die Firma Gebärdenwerk aus Hamburg ist einer der Anbieter für die Produktion von DGS-Filmen in Deutschland. Ihre Auftraggeber sind hauptsächlich Behörden und Ministerien, aber auch schon mal eine Partei, die zum Beispiel einen Wahlwerbespot in DGS anbietet. Die Geschäftsführer Ralph Raule und Knut Weinmeister – beide gehörlos – verfolgen seit der Gründung des Unternehmens 2003 das Ziel, das Behindertengleichstellungsgesetz mit Leben zu füllen. Das heißt, in dem sie unter anderem Inhalte von Internetseiten als Gebärdensprach-Film aufbereiten und damit Gehörlosen den Zugang zum wichtigen Kommunikationsmittel Internet ermöglichen. »Um das zu realisieren, sind wir immer bei neuen Entwicklungen dabei«, sagt Raule. In der Gebärdenschrift sieht er heute noch keine Alternative zum Film, da keine gebrauchsfertige Form vorhanden sei. Und ob sich dies in Zukunft ändern wird, bleibt für ihn abzuwarten. »Denn durch die fortschreitende technische Entwicklung und immer günstiger werdende technische Lösungen, wird es zukünftig vielleicht viel einfacher und üblicher sein, mit Film als mit Schrift zu arbeiten«, so Raule.

Avatare als Alternative zum Film

Thomas Hanke vom Institut für Deutsche Gebärdensprache der Uni Hamburg, der sich schon seit vielen Jahren mit Verschriftlichung der DGS beschäftigt, ist ebenfalls skeptisch. »Die Menschen haben sich irgendwie arrangiert und sehen momentan den Bedarf nicht, die Zeit zu investieren, um eine Schrift zu lernen« sagt er und vermutet, dass es für den Fall, dass sich dies ändert, es bis zur allgemeinen Verwendung einer Gebärdenschrift noch lange dauern wird. Sind also DGS-Videos momentan die beste Lösung? »Ja, besonders wenn es um Inhalte geht, die sich wenig ändern.« Bei Content hingegen, der häufig wechselt oder Info-Displays im öffentlichen Raum könnten allerdings auch Avatare eingesetzt werden. Mit den entsprechenden Computerprogrammen, unter anderem einer Texterkennung, erklärt Thomas Hanke, könne man hier schnell, unaufwändiger und dadurch kostengünstiger auf Änderungen reagieren.

Eines Avatars bedient sich zum Beispiel das Bundesministerium für Arbeit auf www.einfach-teilhaben.de. Auch einige Fluggesellschaften bieten gehörlosen Reisenden Infos mit Avatar-Guides. Die Verständlichkeit oder Emotionalität der künstlichen Dolmetscher ist wohl noch nicht immer optimal, ein Anfang ist jedoch immerhin gemacht.

Ob sich angesichts der technischen Möglichkeiten und Fortschritte der Kommunikationsmittel für gehörlose Menschen in Zukunft eine Gebärdenschrift – ob im Internet oder anderen Medien – etablieren wird, wird sich zeigen. Dabei kommt es nicht zuletzt aber wohl auch auf die Gebärdensprachgemeinschaft selbst und ihr Bedürfnis an, ob sie ihre Kultur um diesen Bestandteil erweitert.