BITV Reloaded – Anforderung 11
Bedingung 11.3: Seiten für alle (keine Nur-Text-Version) (Prio. 1)
»Soweit auch nach bestem Bemühen die Erstellung eines barrierefreien Internetangebots nicht möglich ist, ist ein alternatives, barrierefreies Angebot zur Verfügung zu stellen, dass äquivalente Funktionalitäten und Informationen gleicher Aktualität enthält, soweit es die technischen Möglichkeiten zulassen. Bei Verwendung nicht barrierefreier Technologien sind diese zu ersetzen, sobald aufgrund der technologischen Entwicklung äquivalente, zugängliche Lösungen verfügbar und einsetzbar sind.«
(Anmerkung: die Bedingungen 11.3 und 11.4 wurden in der BITV vertauscht, d. h. BITV 11.3 entspricht WCAG 1.0 11.4, BITV 11.4 entspricht WCAG 1.0 11.3)
Was heißt das?

Eine der problematischsten Bedingungen der gesamten BITV. Lädt sie doch dazu ein, kurzerhand das Scheitern der Bemühungen um einen integrierten barrierefreien Webauftritt zu erklären und Menschen mit Behinderung mit einer reduzierten und vermeintlich barriereärmeren Sonderlösung abzuspeisen. Die Begründung zur BITV schliesst zwar die berühmt-berüchtigten »barrierefreien Nur-Text-Versionen« ausdrücklich aus:
»Grundsätzlich zielt die Verordnung darauf, Sonderlösungen für behinderte Menschen oder für einzelne Gruppen behinderter Menschen zu vermeiden. Die Erstellung eines Internetangebots, das für alle Benutzergruppen gleichermaßen uneingeschränkt nutzbar ist, hat Vorrang insbesondere vor einer ›Nur-Text-Lösung‹ als Alternative zum eigentlichen Internetangebot, da eine solche Darstellung in erster Linie nur für bestimmte Benutzergruppen von behinderten Menschen, etwa für Benutzer von Braille-Zeilen oder Screen-Readern, Barrierefreiheit erreicht.
Gerade durch die Bedingung 11.3 wird jedoch die Möglichkeit geschaffen, solche Sonderwege zuzulassen. Und es wird genutzt, auch und gerade im Geltungsbereich der BITV. Das Ergebnis ist dann häufig nicht ein vollkommen unzugängliches Haupt-Angebot mit einer leidlich zugänglichen Alternative, sondern zwei suboptimale parallele Angebote, die beide nicht zu benutzen sind.
Das solche Szenarien nicht ganz unrealistisch sind zeigen die Websites von einigen Behörden, die voll und ganz zur Einhaltung der BITV verpflichtet sein müssten. Auch im Jahr 2007 finden sich dort Inhalte in abenteuerlichen Code-Konstruktionen wie dieser:
<center>
<table>
<tr>
<td valign=top>
<table border="0" width="700" height="424"
background="bilder/willkommen.gif">
<tr>
<td align="center">
<br><br><br><br><br>
<br><br><br><br><br>
<a href="Barrierefrei/index.htm"><img
border=0 src="bilder/Barrierefrei.gif"
width="54" height="30" alt="Barrierefrei" hspace=10></a>
<a href="de/de.htm"><img
border=0 src="bilder/splash_germ.gif"
width="54" height="30" alt="Zur deutschen Homepage" hspace=10></a>
<a href="en/en.htm"><img
border=0 src="bilder/splash_brit.gif"
width="54" height="30" alt="Zur englischen Homepage" hspace=10></a>
<br><br>
<font size="-2" color="white">
<br><a class="sub" href="Barrierefrei/wir/Barrierefrei.htm">Definition Barrierefrei</a><br>
<br>Für Internetexplorer und Netscape ab Version 4 optimiert.
<br>(Bei der Benutzung anderer Browser kann es zu Darstellungsproblemen kommen.)
</font>
</td>
</tr>
</table>
</td>
</tr>
</table>
</center>
Nimmt man den Code weg ist der einzig verwertbare Text dieser Seite:
Barrierefrei Zur deutschen Homepage Zur englischen Homepage Definition Barrierefrei Für Internetexplorer und Netscape ab Version 4 optimiert. (Bei der Benutzung anderer Browser kann es zu Darstellungsproblemen kommen.)
Die Überschrift zur Seite »Barrierefrei (Info)« versteckt sich bei besagter Behörde in einem wahren Code-Schmankerl: <td class=headline width="80%" height="40" nowrap bgcolor="#2d4b9b"> <font color="#ffffff" size="+2"><div class=headline> Barrierefrei</div></font> </td> <td class=sub width="10%" height="40" bgcolor="#2d4b9b"> </td>
Hier stellt sich die Frage, warum man überhaupt ein Parallel-Angebot mit »äquivalenten Funktionalitäten und Informationen gleicher Aktualität«
bereitstellen sollte. Wenn letzteres die identischen Inhalte nur in anderer Form zur Verfügung stellt, wäre es dann nicht sinnvoller, gleich auf die Barrieren zu verzichten?
Wie können Sie das testen?
Die Abgrenzung zwischen einer unzulässigen Sonderlösung und anderen Formen der alternativen Aufbereitung von Inhalten ist nicht so ohne weiteres zu machen. So kann je nach eingesetzter Technik ein durchaus zulässiger Style Switcher den URL der Seite so verändern, dass diese auf einem eigenständigen Pfad liegt, wie dies auch bei einer Sonderlösung der Fall wäre – dies ist also kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal. Die Bewertung sollte eher auf der konzeptionellen Ebene erfolgen: wie wird generell mit dem Thema »Intergration von Menschen mit Behinderungen« umgegangen? Werden diese zur Nutzung eines gesonderten Angebotes angehalten (z. B. durch entsprechend beschriftete Links in der Navigation) oder ist gleichberechtigte Nutzung des Angebots durch alle Besucher vorgesehen.
Diese Kritik an der Bedingung 11.3 bezieht sich ausdrücklich nicht auf Ansätze, die für spezielle Bedürfnisse behinderter Menschen gedacht sind und zum Beispiel alternative Formen wie Videos in Gebärdensprache oder Texte in Leichter Sprache anbieten. Eine Nur-Text-Version für blinde Nutzer hingegen ist nicht notwendig, denn sauberes HTML ist von Hause aus nichts anderes: strukturierter Text.