BITV Reloaded – Anforderung 11

Bedingung 11.1: Verwendung von W3C-Empfehlungen (Prio. 1)

»Es sind öffentlich zugängliche und vollständig dokumentierte Technologien in ihrer jeweils aktuellen Version zu verwenden, soweit dies für die Erfüllung der angestrebten Aufgabe angemessen ist.«

  • BIENE
  • BIENE
  • WCAG 1
  • WCAG 2.0

Was heißt das?

Die BITV weicht in diesem Punkt erheblich von der originalen Formulierung in den WCAG 1.0 ab. Dort steht:

»Verwenden Sie W3C-Technologien, wenn sie verfügbar und der Aufgabe angemessen sind und benutzen Sie die neueste Version, wenn sie unterstützt wird.«

Kontrovers

Aus Sicht des W3C ist diese Betonung der eigenen Empfehlungen sicher verständlich und zum Zeitpunkt der Entstehung gab es kaum Alternativen. Die BITV hingegen spricht lediglich davon, dass »zugängliche und vollständig dokumentierte Technologien [sic! zu verwenden sind. Dies bedeutet entgegen der gelegentlich zu lesenden Interpretation nicht, dass man keine Hersteller-gebundenen und mit (Patent-)Rechten geschützte Formate benutzen darf.

Auch die Empfehlungen des W3C unterliegen einer sog. »Patent Policy« und sind somit nur innerhalb der festgelegten Rahmenbedingungen wirklich »frei«. Die Grenzen verlaufen somit zwischen »öffentlich zugänglich und vollständig dokumentiert« vs. »geheim und undokumentiert« und nicht zwischen »proprietär« vs. »Open Source«. Niemand würde ja auch ernsthaft verlangen, dass man keine GIF- oder JPEG-Dateien benutzen solle, weil diese nicht durch die Gremien des W3C ratifiziert wurden. Der Nachweis, dass GIF für Menschen mit Behinderung eine unüberwindbare Hürde darstellt während PNG hervorragend zugänglich ist, dürfte kaum erbracht werden können. Die meisten Barrieren liegen also nicht in der eingesetzten Technik, sondern daran, was man mit ihr macht.

Bei der Forderung, die jeweils aktuelle Version einer Empfehlung zu benutzen unterscheiden sich BITV und WCAG 1.0 nur durch die etwas andere Formulierung – wenn man als Anbieter davon ausgehen muss, dass eine Technik von der überwiegenden Anzahl der Nutzer verwendet werden kann, dann muss man diese benutzen, statt vergleichbare, jedoch veraltete Standards beizubehalten.

Dies bedeutet nicht, dass man seit dem Erscheinen von XHTML 1.1 kein XHTML 1.0 oder HTML 4.01 verwenden darf. XHTML 1.1 ist nicht die aktuelle Version von HTML (ohne X), dies ist nach wie vor HTML 4.01. Falls es irgendwann tatsächlich mal ein HTML 5 geben sollte, so wäre dies die aktuelle Version von HTML; sollte XHTML 2 jemals fertig gestellt werden, so wäre dies dann die aktuelle Version von XHTML.

WCAG und BITV machen hier die Einschränkung, dass eine modernere Technik »für die Erfüllung der angestrebten Aufgabe angemessen« sein sollte; in der BITV fehlt jedoch der Zusatz »wenn sie unterstützt wird« – hierdurch könnten Webentwickler in die Falle laufen, indem sie Techniken einsetzen, die zwar der ›dernier cri‹ sind, aber von der Mehrzahl der Zugangssoftware nicht oder nur unzureichend unterstützt werden.

Ab wann ist eine Technik angemessen?

Die Empfehlungen des W3C sind grösstenteils mit einem besonderen Augenmerk auf die Accessibility entwickelt worden. Eine Aufstellung finden Sie im Abschnitt »Technologies Reviewed for Accessibility« der WCAG 1.0.

Zur Entstehungszeit dieser Richtlinie konnte man dies von Formaten wie PDF oder Flash ganz sicher nicht behaupten: diese Formate konnten aus damaliger Sicht als weitestgehend unzugänglich gelten. Die Hersteller hatten das Thema Accessibility nicht auf dem Radar und die Formate waren zur damaligen Zeit noch relativ neu, die Hersteller der Hilfsmittel mussten ihre Anwendungen erst an diese Formate anpassen.

Beides hat sich inzwischen umgekehrt: viele nicht-W3C-Formate lassen sich barrierefrei nutzen, wenn bei der Erstellung die Grundregeln beachtet wurden. Ebenso lassen sich diese Formate schon seit einigen Generationen mit den gängigen Hilfsmitteln behinderter Menschen nutzen. Ob diese Formate nun für die »Erfüllung der angestrebten Aufgabe angemessen«, oder ob es nicht doch bessere Alternativen gibt sind steht auf einem anderen Blatt:

Sonderfall Flash

Zur Darstellung interaktiver multimedialer Inhalte ist Flash das Werkzeug der Wahl, da die Möglichkeiten bei weitem über das hinausgehen, was man mit statischen Texten erreichen kann. Durch die Einbettung von Videos per Flash kann sich ein Webdesigner eine Menge Arbeit ersparen und der Nutzer braucht sich nicht mit unterschiedlichen Playern und fehlenden Codecs herumzuschlagen. Zudem lassen sich Videos und Multimedia-Präsentationen recht einfach mit Untertiteln versehen, sehr schöne Beispiele hierfür gibt es beim amerikanischen Qualitätsfernsehen PBS sowie bei click.tv.

Ungeeignet ist Flash hingegen zur reinen Darstellung grösserer Mengen von reinen strukturierten Texten ohne zusätzliche interaktive Elemente – hier ist herkömmliches HTML definitiv die bessere Wahl. Eine hervorragend umgesetzte Kombination von Texten und Videos zeigt die BIENE-prämierte Seite der Firma Pfizer: »Gebrauchsinformation, Packungsbeilage oder Beipackzettel - Tipps, wie man ihn liest!«

Sonderfall PDF

Eine Abgrenzung, für welche Anwendungszwecke das PDF-Format angemessen ist und für welche nicht finden Sie in unserem Artikel »Fakten und Meinungen zur Barrierefreiheit von PDF«.