Die barrierefreie Durchführung einer Onlinebefragung

Um in einer Onlinebefragung unter Menschen mit Behinderungen deren Barrieren der Web-2.0-Nutzung erfassen zu können, muss die Befragung selber barrierefrei realisiert werden.

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Autor: tc

Die für die Befragung benötigten Formulare sollten für alle Behinderungsgruppen in ihrer natürlichen Wahrnehmungs- und Ausdrucksform nutzbar sein. Um dieses Ziel zu erreichen, musste die Umfrage so konzipiert werden, dass Teilnehmer mit unterschiedlichsten Behinderungen und mit Hilfe verschiedener Hilfsmittel in der Lage waren, die Umfrage wahrzunehmen, zu bedienen und zu verstehen. Dazu gehörte auch, dass sämtliche Inhalte sowohl in Deutscher Gebärdensprache (DGS) als auch in Leichter Sprache (LS) in die Umfrageseiten integriert waren. Die Aktion Mensch startete somit die erste wirklich barrierefreie Online-Umfrage unter Menschen mit Behinderungen.

Neben den Ergebnissen, die in die Neufassung der BIENE-Kriterien für 2008 eingearbeitet wurden, hat die Befragung schon während ihrer Erarbeitung eine Vielzahl von Hinweisen gegeben. Sie zeigte, wie behinderte Nutzer mit komplexen Formularen umgehen und wo Barrieren in der praktischen Anwendung bestehen, die durch keine Richtlinie abgedeckt sind. Sie zeigte aber auch, dass barrierefreie Formulare weiterhin Pionierarbeit sind, da die Marktforschung nicht auf die Anforderungen an barrierefreie Umfragen vorbereitet ist und die auf dem Markt verfügbaren Werkzeuge teilweise unbrauchbaren Code produzieren.

Konzeptionelle Schwierigkeiten einer barrierefreien Umfrage

Lange Bearbeitungszeiten

Weil anzunehmen war, dass die Bearbeitungszeit des Fragebogens durch die Verwendung assistiver Technologien wie Screenreader oder Braillezeile sowie durch kognitive Beeinträchtigungen der Teilnehmer stark erhöht sein würde, war es notwendig, dass die Teilnehmer die Befragung unterbrechen und wieder aufnehmen konnten. Daher begann der Fragebogen mit einer Vorschaltseite mit der Möglichkeit, sich einen automatisiert erstellten individuellen Zugangslink anzufordern. Über diesen Link konnte die Befragung unterbrochen und wieder aufgenommen werden.

Screenshot der barrierefreien Onlinebefragung - Vorschaltseite

Einfache Sprache

Um für Menschen mit Lese-/ Rechtschreibschwächen, Lernbehinderung und geistiger Behinderung verwendbar zu sein, mussten alle Fragen möglichst einfach formuliert werden. Bei einem Fragebogen, in dem es um Internet und Web 2.0 geht, stößt man hier bei der Verwendung sachlich korrekter Begriffe schnell an die Grenzen der Vorgabe, Fremdworte zu vermeiden. Wo möglich wurde versucht, Umschreibungen und Erläuterungen zu verwenden. Der Fragebogen wurde zur Überprüfung der Verständlichkeit vom Fachlichen Beirat des BIENE-Wettbewerbs kontrolliert und freigegeben.

Eine weitere Übersetzung in die sog. Leichte Sprache war aus Sicht der Marktforscher nicht möglich: Die Antworten wären aufgrund der nötigen Vereinfachung nicht mehr mit den Antworten aus der allgemeinen Befragung zusammenzuführen gewesen – der Nachweis, dass alle Nutzer tatsächlich auch dieselben Fragen gestellt bekamen und beantwortet haben, wäre also unmöglich gewesen.

Um Menschen mit kognitiven Behinderungen und Leseschwächen trotzdem die Teilnahme an der Umfrage zu erleichtern, wurden sämtliche Fragen und Antworten mittels einer Sprachsynthese in Audio-Dateien umgewandelt, die in die Befragung integriert wurden. So konnten sich Nutzer nach entsprechender Vorauswahl den gesamten Text der Umfrage im Browserfenster vorlesen lassen. Der Aufwand für die Erstellung der insgesamt 174 Audio-Dateien ist zu vernachlässigen, da sich dies mit einer geeigneten Software für die Sprachsynthese weitestgehend automatisieren lässt. Der eigentliche Aufwand bestand eher in der hierdurch notwendig gewordenen Erweiterung des verwendeten Umfrage-Systems, dass diese Funktionalität nicht vorgesehen hatte.

Ansprache von verschiedenen Sinnesmodalitäten

Dies ist eine ganz zentrale Anforderung, wenn die Befragung für Menschen mit unterschiedlichen Arten sensorischer Behinderungen (Sehbehinderungen, Hörbehinderungen) zugänglich sein soll. Die Fragen- und Antwort-Texte des Fragebogens wurden dafür in Gebärdensprache übersetzt und als Videos hinterlegt, die den Fragen und Antworten unmittelbar zugeordnet waren. Hierbei ergab sich das Problem, dass aus methodischen Gründen keine festgelegte Abfolge der Fragen definierbar war, da je nach vorherigen Antworten eine Filterung der folgenden Fragestellungen notwendig war (z.B. wurden Benutzer nicht weiter zu Angeboten befragt, die sie vorher mit »kenne ich nicht« beantwortet hatten). Hinzu kam, dass die Antwort-Optionen rotiert werden sollten, da bei solchen Umfragen zu beobachten ist, dass in längeren Listen von Optionen die ersten drei sowie die letzten drei am häufigsten ausgewählt werden. Da somit keine feste Choreographie des Ablaufes definierbar war, musste für jede einzelne Frage und sämtliche Antwortoptionen ein eigener kurzer Film erstellt werden.

Screenshot der barrierefreien Onlinebefragung - Selbständige Nutzung

Im Gegensatz zu den o.g. Audio-Dateien wurde wegen zu erwartender Akzeptanz-Probleme auf die synthetische Darstellung der Gebärden mittels Avatar verzichtet, stattdessen wurden die Gebärdensprach-Videos mit gehörlosen Muttersprachlern der Gebärdensprache im Studio aufgenommen. Bei einer Anzahl von 174 Filmen bedeutete dies einen erheblichen Aufwand, zumal redaktionelle Änderungen in letzter Minute bedeuteten, dass ganze Filme neu aufgenommen werden mussten.

Screenshot der barrierefreien Onlinebefragung - Gebärdensprachvideo

Nutzbarkeit des Fragebogens mit Hilfsmitteln

Eine weitere wichtige Anforderung für die barrierefreie Gestaltung einer Website ist die Möglichkeit, sie mit assistiven Technologien wie z.B. Screenreadern auszulesen. Dies betrifft in erster Linie die Einhaltung von Konventionen im Markup der Anwendung (HTML), es hat aber auch unmittelbare Auswirkungen auf die inhaltliche Gestaltung des Fragebogens. Bei langen Itembatterien werden bei Onlinebefragungen üblicherweise Matrix-Fragen verwendet: Tabellen, bei denen in Zeilen die einzelnen Antwort-Items (z.B. verschiedene Typen von Websites) stehen und in den Spalten die Antwortmöglichkeiten (z.B. eine Skala mit Ausprägungen von »sehr gut« bis »sehr schlecht«). Diese kompakte Darstellung hat für sehende Nutzer den Vorteil, dass man einen schnellen Überblick über die Frage erhält und Redundanzen spart (immer wieder dieselbe Frage stellen, immer wieder die gleiche Skala nennen).

Screenshot der barrierefreien Onlinebefragung - Tabellarische Antwortauswahl

Wie sich in Pre-Tests mit blinden Nutzern anhand eines Musters herausstellte, sind tabellarische Matrixfragen für die Orientierung mittels Screenreader ab einer gewissen Komplexität ungeeignet. So stellte sich in den Tests heraus, dass Screenreader-Nutzer teils mehr als 45 Minuten für die Umfrage brauchten (zum Vergleich: die Nutzer einer nicht-sehbehinderten Kontrollgruppe bewältigten die Aufgabe im Schnitt nach ca. 20 Minuten).

Die Umsetzung war demnach zwar auf der rein technischen Ebene zugänglich, da alle Testpersonen die Aufgabe, wenn auch mit unzumutbarer Dauer, zumindest theoretisch bewältigen konnten. Eine Strukturierung, mit der Screenreader-Nutzer aufgrund der komplexen Anforderungen an die Orientierung mehr als doppelt so lange brauchen, kann jedoch als unzumutbar und damit als nicht barrierefrei angesehen werden. Man kann sicher davon ausgehen, dass dieser Umfang unnötig viele Abbrüche provoziert hätte; verwertbare Aussagen bekommt man aber nur aus Fragebögen, die möglichst vollständig ausgefüllt sind.

Daher musste bereits in der Konzeption des Fragebogens auf eine spätere Umsetzung der Fragen als Einzelfragen geachtet und die Matrix in einzelne Fragen aufgelöst werden, die nacheinander abzuarbeiten sind. Auch wenn dies in der Anzahl mehr Bildschirmseiten bedeutete, so pendelte sich die gemessene Zeit bei den Screenreader-Nutzern nach der Umstrukturierung bei ca. einer halben Stunde ein.

Abbildung der Erkenntnisse aus dem Pre-Test

Das größte Problem in der Umsetzung der barrierefreien Online-Umfrage entstand, als alle diese zuvor genannten Bedürfnisse in Konzeption, Design und technischer Umsetzung zusammengeführt und gleichrangig berücksichtigt werden mussten. Hier zeigte sich schnell, dass das grundlegende Prinzip der Barrierefreiheit, allen Nutzern gleichberechtigt den Zugang zu ein und demselben Inhalt zu ermöglichen, in Fällen wie diesem an seine Grenzen stößt.

An einem konkreten Beispiel lassen sich diese Schwierigkeiten gut illustrieren: Die Audio- und Video-Dateien wurden mit einem verbreiteten Medien-Player auf Basis von Flash in die Seiten eingebettet. Um den Nutzern die Zuordnung zu ermöglichen, mussten diese in unmittelbarer Nähe der betreffenden Fragen und Antworten platziert werden. Da diese zum überwiegenden Teil HTML-Formularelemente beinhalteten (Textfelder, Radiobuttons, Checkboxen etc.), wurden Flash-Dateien von verbreiteten Screenreadern wie Bestandteile des Formulars behandelt und dementsprechend mit vorgelesen.

Die DGS-Filme und Audio-Dateien sollten zudem auch für Tastaturnutzer (z.B. mit motorischer Behinderung) zugänglich sein – womit sie automatisch auch für Screenreader »vorhanden« sind, da sich Screenreader-Nutzer in der Regel ebenfalls per Tastatur durch eine Seite bzw. durch ein Formular bewegen.

Neben der ohnehin schon schwierigen Orientierung in komplexen Formularen kam hierdurch für Screenreader-Nutzer noch der erschwerende Umstand hinzu, dass viele unsinnige oder redundante Informationen mehrfach ausgegeben wurden, weil man solche Flash-Files nicht effektiv vor Screenreadern verstecken kann, ohne dass sie für alle Nutzer unbedienbar oder sogar unsichtbar sind.

Die einzige Möglichkeit für ein gemeinsames Angebot ohne unterschiedliche Handlungsstränge für blinde, gehörlose und lernbehinderte Nutzer wäre gewesen, die gesamte Umfrage als einen einzigen Flash-Film zu implementieren – in diesem Falle hätte das Verstecken von Audio- und Video-Daten vor den Nutzern von Screenreadern funktioniert.

Allerdings hätte die Umfrage dann vor einem Akzeptanzproblem gestanden: Insbesondere Screenreader-Nutzer lernen tagtäglich im Netz, dass Flash-Dateien unzugänglich für die verwendeten Hilfsmittel sind, wenn von den Anbietern (und das ist die Regel) nicht auf Barrierefreiheit geachtet wird. Es ist anzunehmen, dass eine rein Flash-basierte Umfrage in der Summe sicher weniger verwertbare Ergebnisse produziert hätte.

Daher blieb als einzige Möglichkeit, separate Umfragen für Gehörlose, Blinde, Menschen mit Leseschwächen und alle anderen anzubieten – was dem Grundgedanken der Barrierefreiheit – ein gemeinsam nutzbares Angebot für alle – diametral zuwiderläuft. In Absprache mit dem Fachlichen Beirat des BIENE-Wettbewerbs wurde nach intensiver Diskussion beschlossen, von diesem Grundsatz abzuweichen und die Umfrage so aufzuteilen, dass unterschiedlichste Nutzer-Bedürfnisse abgefangen werden konnten, ohne dass diese sich konterkarierten.

Screenshot der barrierefreien Onlinebefragung - Auswahl der verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten